Der Autor Sebastian Linder hat im Rahmen des Masterprogrammes „Socio-Ecological Economics & Policy“ an der Wirtschaftsuniversität Wien seine Masterarbeit zu Ecuadors Verfassung geschrieben, in der er gegensätzliche Diskurse zum „Guten Leben für Alle“ auf ihren Sinngehalt und ihr Selbstverständnis hin untersucht.
Das Leitbild des „Guten Leben für Alle“ hat in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erfahren. In Österreich wurde dies vor allem durch die beiden GLFA-Kongresse 2015 und 2017 in Wien deutlich, die sich einer großen Anzahl an Teilnehmenden und Interessierten erfreuen konnten. Anderswo, nämlich in Südamerika, hat das Thema sogar eine noch viel größere Bedeutung erlangt: Ecuador hat 2008 eine neue Verfassung verabschiedet, in der das „Gute Leben für Alle“ – das „Buen Vivir“, den Ausgangspunkt bildet.
Dieser Schritt wurde durch Rafael Correa gesetzt, der 2007 als linkspopulistischer Präsident ins Amt gewählt wurde und den BürgerInnen nichts weniger als eine Revolution, eine „radikale Transformation“ versprach. Correa sagte den, durch die früheren Kolonialmächte importierten, neoliberalen Wirtschaftspolitiken den Kampf an, sowie dem damit einhergehenden Einfluss ausländischer, neoimperialer Mächte im eigenen Land. Die größten Wellen geschlagen hat international aber wohl, dass „Pachamama“, die Mutter Erde, zu einem Rechtssubjekt gemacht wurde. Der Natur wurden in diesem Zuge unter anderem Rechte von Verfassungsrang auf ihren Schutz, Fortbestand und Wiederherstellung eingeräumt.
Generell galt an höchster Stelle das Recht auf ein gutes Leben – für alle Lebewesen und Lebensformen gleichermaßen. Das Buen Vivir wurde von einer alten, indigenen Cosmovision abgeleitet, dem „Sumak Kawsay“. Ecuador hat sich auf seine Wurzeln besonnen, und eine der Säulen der neuen Verfassung ist auf der Plurinationalität des Staates aufgebaut. Der Anerkennung und Gleichberechtigung aller seit Jahrhunderten in Ecuador vertretenen Völker und Kulturen kommt ebenfalls eine große Bedeutung zu.
Das Gute Leben für Alle, die Rechte der Natur. Ist das zu gut, um wahr zu sein? Könnte diese noble Idee in der realen Welt tatsächlich funktionieren?
Der Ansatz Ecuadors hat mich so sehr fasziniert, dass ich dem Thema „Buen Vivir“ meine Masterarbeit gewidmet habe, und im Zuge dieser auch nach Ecuador gegangen bin, um Feldforschung zu betreiben.
Denn es sollte nicht lange dauern, bis die Correa-Regierung auf die ersten Widerstände traf. Kritische Stimmen wurden zahlreicher und lauter, sie kamen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Correa als Regierungsoberhaupt und Initiator des Buen Vivir wurde vorgeworfen, die eigene Verfassung nicht zu respektieren. Denn seit seinem Amtsantritt entwickelte sich die Wirtschaft Ecuadors, welche traditionsgemäß schon immer sehr auf den Export natürlicher Ressourcen ausgelegt war, sogar noch stärker in diese Richtung. KritikerInnen sahen darin eine Fortsetzung derselben, zerstörerischen Praktiken, während die Regierung gleichzeitig der Auffassung war, das Buen Vivir auch tatsächlich zu praktizieren. Für dieses Dilemma symbolisch war die Entscheidung Correas, das sensible Ökosystem des Yasuní-Nationalparks nicht länger unangetastet zu lassen, sondern die dort entdeckten Ölvorkommen zu fördern. Die Regierung argumentierte, dass dieser Schritt unumgänglich sei, auch im Rahmen des Buen Vivir. Denn es existieren nach wie vor große soziale Probleme, wie Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger – welche nur mit den enormen Einnahmen aus dem Ressourcenabbau in Angriff genommen werden könnten. Die Gegenseite wiederum kritisierte, dass solch eine Entscheidung mit dem Buen Vivir unvereinbar ist.
Es zeichneten sich also verschiedene, gegensätzliche Diskurse zum Buen Vivir ab. Diese bedienen sich allerdings häufig derselben Zuschreibungen, derselben Worte. Vereinfacht gesagt, sprechen beide Seiten von Buen Vivir, verstehen aber offenbar nicht dasselbe darunter. Während die Regierung Ressourcen abbaut und damit Ökosysteme zerstört, und dies im Einklang mit dem Buen Vivir sieht, scheinen die GegnerInnen dies als blanken Verrat an dem Konzept zu empfinden.
Wie sich diese Diskurse selbst definieren und verstehen, bildete das Kerninteresse meiner Masterarbeit. In Ecuador habe ich dann einige Interviews sowohl mit UnterstützerInnen des regierungsnahen Diskurses durchgeführt, sowie auch mit dessen GegnerInnen.
Grundsätzlich festgestellt habe ich dabei, dass regierungsseitig die Überzeugung herrscht, dass seit 2008 zahlreiche Verbesserungen stattgefunden haben. Gerne werden sozioökonomische Statistiken herbeigezogen, die tatsächlich zeigen, dass beispielsweise Armut, Ungleichverteilung und die Analphabetenrate kontinuierlich zurückgegangen sind. Es wurden neue Ministerien und Institutionen gegründet, es wurde, mehr als zuvor, auf erneuerbare Energien gesetzt. Kritik an dem intensiven Ressourcenabbau wird zähneknirschend akzeptiert, aber unvermeidbar empfunden, da Ecuador noch nicht über die nötigen wirtschaftlichen Strukturen verfügt, um auf anderem Wege genügend Staatseinnahmen zu generieren, die für die sozialen Ziele notwendig sind. Ressourcenabbau als Mittel zum Zweck also. Die RegierungsvertreterInnen betonen, dass eine Transformation nicht über Nacht geschehen könne, sondern eine graduelle Transition voraussetzt, und diese benötigt nun einmal Zeit. Der Gegenseite wird vorgeworfen, dies nicht verstanden zu haben und der Regierung nicht das nötige Vertrauen, die nötige Geduld zu schenken, und somit einen konstruktiven und demokratischen Prozess zu stören.
René Ramírez, einer der politischen Architekten des Buen Vivir und zum Zeitpunkt des Interviews Bildungs- und Wissenschaftsminister, betonte zudem die begrenzten Möglichkeiten Ecuadors, so eine Transformation zu vollziehen. Ein relativ kleines Entwicklungsland, das eingebunden in ein kapitalistisches Weltsystem stark abhängig von äußeren Faktoren ist, kann alleine kein Wunder vollbringen – „Wir sind Ameisen“, schlussfolgerte Ramírez. Eine andere Regierungsvertreterin sagte, dass Ecuador noch keine Buen Vivir-Gesellschaft ist, die Verfassung aber der Weg sei, der dort hinführen würde. Auf diesem Weg seien Brüche mit dieser zwar bedauerlich, aber leider unumgänglich. Es könne keine Entwicklung stattfinden, wenn sich nicht der natürlichen Ressourcen bedient wird. Eine Abkehr von einem kapitalistischen System ist langfristig jedoch die Voraussetzung dafür, denn dieses sieht sie mit dem Buen Vivir unvereinbar.
Die Gegenseite ist unterdessen der Meinung, die Regierung habe das Buen Vivir zweckentfremdet und nur als Propaganda benützt, um Wahlerfolge zu erlangen. Versprochen wurde eine radikale Transformation, eine „neue Form von Demokratie“, und ein politisches „bottom-up“ Programm. Geschehen ist der kritischen Meinung nach in den letzten Jahren nicht genug, um von einer Transition, also einem Teilschritt einer Transformation sprechen zu können. Fortschritt im Aufbau einer besseren Form der Demokratie sehen sie ebenfalls nicht, aufgrund des zunehmend autoritären Führungsstiles des Präsidenten Correa, der dazu neigte, Demonstrationen gewaltsam zu beenden und kritische Stimmen in den Medien mundtot zu machen. Generell schien es, als würde der Löwenanteil der Kritik vor allem direkt an die Person Rafael Correa adressiert sein, und nicht an das Buen Vivir per se. Dieser musste im Verlauf seiner Amtszeit einen stetig steigenden Widerstand und sinkende Beliebtheitswerte erfahren. Die Gegenseite hatte sich eine Transformation erwartet, verstand aber sehr wohl, dass diese Zeit benötigen wird. Für eine schrittweise Transition seien aber nicht die nötigen Bedingungen erfüllt worden, diese setzt nämlich eine starke Einbindung und Partizipation der Bevölkerung voraus. Die neue Form von Demokratie, die Correa versprochen hatte, wurde letztendlich durch seinen eigenen Führungsstil vereitelt.
Die KritikerInnen schienen sich bewusst zu sein, dass vorläufig auch weiterhin intensiv Ressourcen abgebaut werden müssen, auf dem Weg hin zu einem Buen Vivir. Was sie jedoch vehement kritisierten war, dass die Regierung die einmalige Gelegenheit nicht ausreichend genützt hatte, die sich ihr bot: Denn während der Amtszeit Correas haben natürliche Rohstoffe einen regelrechten „Boom“ erlebt, und auf den Weltmärkten enorme Preise erzielt. Der Regierung gelang es allerdings nicht, diese zusätzlichen Einkünfte zielführend genug zu investieren.
Zusammengefasst konnte ich erkennen, dass nicht überall dort gegenseitiges Unverständnis herrscht, wo ich es vermutet hatte. Die KritikerInnen erwarteten sich nicht von der Regierung, dass eine radikale Transformation zu einer nicht-kapitalistischen und auf Ressourcenabbau verzichtende Wirtschaftsform über Nacht geschehen könnte. Es herrscht Übereinstimmung darüber, dass eine graduelle Transition, ein schrittweise, konsequent geführter Weg dem Buen Vivir entgegen, letztendlich in diesem münden könnte, und dass die Verfassung derzeit noch etwas Utopie, und nicht nur strikt bindendes Regelwerk ist.
Ecuador hat sich selbst eine monumentale Herausforderung geschaffen, die, sofern sie alleine überhaupt je bewerkstelligt werden kann, einiges an Zeit brauchen wird. Mittlerweile ist Rafael Correa nicht mehr Präsident, und es bleibt zu sehen, inwieweit sich der Machtwechsel auf den Plan Ecuadors auswirkt, sich dem Buen Vivir weiter anzunähern. Es wäre für Ecuador sicher um einiges leichter, wenn andere Länder auch die Notwendigkeit einer sozioökonomischen-ökologischen Transformation im selben Ausmaß erkennen, und das Ruder entsprechend umlenken würden.