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Novy Rezension - Gutes Leben auf Kosten anderer

Stephan Lessenichs neues Buch "Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis" ist eine Anklage gegen eine zutiefst ungleiche Welt, in der einige auf Kosten vieler gut leben können.

Vor dem Hintergrund der Flüchtlingstragödie formuliert der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wortgewaltig seine Kritik: „Irgendwie sitzen wir … alle im selben Boot: In einem kohlenstoffgetriebenen, luxussanierten und repräsentativdemokratischen Dampfkreuzer namens Externalisierungsgesellschaft. Und plötzlich kommen uns da auf unserer großen Fahrt ins Glück doch Schlauchboote und Schleuserbanden in die Quere.“ Alle, ausnahmslos alle, von der Putzfrau bis zum Bankmanager, denen die „Lotterie des Lebens“ das Privileg schenkte, in reichen Ländern geboren zu sein, leisten sich – so Lessenich - ein gutes Leben auf Kosten anderer – zum Beispiel von Schutzsuchenden.

Lessenichs Empörung ist verständlich, wenn er den Zynismus der aktuellen Globalisierung benennt, die auf Geschäftsreisen basiert, ins Exil Getriebene aber verfolgt: „Für Profite zu reisen wird befördert; zum Überleben zu reisen wird verurteilt.“ Eindrucksvoll benennt er auch die Mechanismen des ungleichen Tauschs. So benötigt die EU bis zu 35 Millionen Hektar Land außerhalb ihres Territoriums – insbesondere für Futtermittelanbau - für ihre eigene, nicht nachhaltige Viehwirtschaft. Nur dies ermöglicht Fleisch zu Diskontpreisen. Exzessiver Fleischkonsum, ungesund und klimaschädlich, wird so auch für die Ärmeren in Europa erschwinglich. Doch dabei belässt es Lessenich nicht, sondern relativiert auch die „befähigende, einbeziehende, inklusive Seite der Staatsbürgerrechte“, da ja der Klub der Reichen, abgesichert durch den richtigen Pass, Migranten aus anderen Ländern die eigenen sozialen Rechte vorenthält. Europas Reiche und Arme profitieren demnach nicht nur von billigen Importen, sondern auch von ausgebauten Sozialstaaten – „auf Kosten anderer“. Aber ist es wirklich zielführend, ein unterschiedsloses „wir“ zu verwenden, um Europas Bevölkerung kollektiv als „Profiteure“ zu bezeichnen? Sitzen Verkäuferinnen und Bankmanager im selben Boot?

Wenn es stimmt, dass Europas Benachteiligte eigentlich „Profiteure“ sind, wäre es für diese durchaus „rational“, ihr durch die „Lotterie des Lebens“ erworbenes Privileg mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Genau dazu laden die Boulevardmedien und reaktionäre Rechte tagtäglich ein. Wäre hier ein wohlwollender, vielleicht sogar empathischer Blick auf Europas Mittel- und Unterschicht – analytisch und politisch – nicht zielführender? Ein Blick, gleichermaßen auf kollektiven Egoismus und Verunsicherung; auf Sachzwänge und Sorgen. Sind „wir“ nicht gleichermaßen Täter und Opfer eines Exklusion produzierenden Systems?

Und sind nicht auch die Menschen des Globalen Südens nicht einzig Opfer unserer Externalisierung, sondern auch aktive Gestalter von Veränderung? Haben nicht auch die Menschen in vielen Teilen des Globalen Südens vom Kapitalismus profitiert und leiden gleichzeitig darunter? Lessenich eröffnet und schließt seine Reflexionen über die Paradoxien des guten Lebens mit einem Fallbeispiel aus Brasilien, das dieses Land als wehrloses Opfer von Konzernmacht erscheinen lässt. Während Lessenich Europas Sozialstaat erwähnt, indem er dessen emanzipatorisches Potential relativiert, so scheint der sich aktuell zuspitzende Kampf um Brasiliens Sozialstaat keine Zeile Wert zu sein.

Wem gilt Lessenichs Kritik der „zivilisatorischen Errungenschaften der Staatsbürgerrechte“: Nur „uns“, die „wir“ Schutzsuchenden den Zugang erschweren und verwehren, oder gilt sie generell, das heißt auch für Brasilien, wo soziale Rechte gegen eine Diktatur erkämpft wurden und zig-Millionen Menschen den Weg aus der Armut ermöglichten? So haben heute Brasiliens Hausangestellte - im konkreten Fall 6,5 Millionen Frauen – erstmals auch soziale Rechte. Meint er, dass derartig erworbene Staatsbürgerrechte für die Nachkommen schwarzer SklavInnen „zweischneidig“ seien, weil sie nur auf brasilianischem Territorium gelten? Vermutlich nicht. Dann müsste Lessenich wohl zugestehen, dass territoriale, oftmals national organisierte soziale Rechte weiterhin eine wirksame Form sind, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen; bzw. deren Demontage zu Ausgrenzung führt. Wo und wie hätten sich Brasiliens schwarze Frauen organisieren sollen, um vergleichbare – von Lessenich geforderte - „globale soziale Rechte“ zugesprochen zu bekommen? In New York, in Washington oder in Brüssel?

Lessenich vereinfacht, was gar kein Problem wäre. Problematisch ist, dass er sich dabei der dominanten ökonomischen Begrifflichkeit der Neoklassik bedient. In dieser Theorie gibt es nur Individuen und einen globalen Markt. Problematisch sind für ihn daher Individuen, die „Profiteure“ sind; anzustreben ist ein „aufgeklärtes Eigeninteresse“. Die eingangs vorgetragene radikale Kritik versandet so gegen Ende des Buches in einem allzu bekannten liberalen Credo eines grenzenlosen „demokratischen, global-egalitären Reformprojekts“. Doch wie soll dies 2017 angegangen werden angesichts entgrenzter Märkte und neuer imperialistischer Dynamiken – von Putin bis Trump?

Wäre es nicht sinnvoll, stattdessen Handlungsspielräume von unten, in Gemeinden, Regionen und Nationen auszuloten? Wo Lessenich seine ökonomistische Sprechweise verlässt, weist er selber den Weg: „Politisierung braucht Kollektivität, Kollektivität schafft Politisierung“. Auf globaler Ebene scheint es auf absehbare Zeit aussichtslos, neue soziale Teilhaberechte und Menschenrechte einzufordern. Vielmehr droht ein Abwehrkampf für die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen und gegen Investitionsschutzabkommen wie CETA. Vor Ort und regional hingegen gibt es Kreativität und Engagement. Und manchmal gibt es auch den politischen Willen zu experimentieren, wie die „zivilisatorischen Errungenschaften der Staatsbürgerrechte“ nicht von einem exklusiven Klub der Reichen monopolisiert werden, sondern alle Bewohner am Gemeinwesen teilhaben lassen. Die vergangenen und aktuellen Kämpfe um den Sozialstaat bei uns und weltweit liefern hierzu immer noch wesentliche Einsichten.

Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien und organisiert den Gutes Leben für alle Kongress vom 9.-11. Februar an der WU.