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Social Design in die Alpen bringen

Nicole Hohmann ist freie Kulturgestalterin und Käserin. Sie gestaltete maßgeblich die 1. Transnationale Alpentagung in Schmirn und die 2. Alpentagung.

Es war ein freudiges Wiedersehen mit dem UNESCO Biosphärenpark Großes Walsertal: Meine Recherchen über Berg|Landwirtschaft für die 1. Alpentagung (in Schmirn) hatten mich bereits im Sommer 2015 als Kuhhirtin auf die Stafelalp ins Große Walsertal geführt. Damals traf ich die letzten Tagungsvorbereitungen dank mobilem Internet und Telefon in einer schönen sorgsam gepflegten Berglandschaft und inmitten einer Kuhherde, die es zu behüten galt.

In dieser Zeit lernte ich die Landschaft, die Menschen vor Ort und ihr nachhaltiges Handeln zu schätzen. Ich lernte auch die damals neu renovierte und wiedereröffnete Propstei St. Gerold als besonderen Ort kennen und nicht zuletzt das besondere Wesen von Kühen. Wie Schmirn trägt auch das Große Walsertal die Auszeichnung „Bergsteigerdorf“ vom österreichischen Alpenverein. Zu den wichtigsten Kriterien für Bergsteigerdörfer gehört, Tourismus und Naturschutz miteinander in Einklang zu bringen und erfahrbar zu machen, wie wertvoll die Ressource unverbrauchte Kulturlandschaft ist. 

DEN RICHTIGEN ORT GEFUNDEN

Das machte das Große Walsertal zum idealen Ort für die 2. Transnationale Alpentagung, ausgerichtet von der Grüne Bildungswerkstatt Vorarlberg, um über „Leben und Wirtschaften im ländlichen Raum“ zu diskutieren.Für die Gestaltung der Alpentagung waren zudem folgende Punkte maßgeblich:Der Alpenraum stellt gerade wegen seiner topografischen, klimatischen und kleinstrukturierten Gegebenheiten eine Modellregion des „guten Lebens“ dar, von der auch andere, nicht alpine Regionen lernen können.Die Tagung sollte einen transdisziplinären Ansatz (auch in der Verknüpfung von Theorie und Praxis!) haben, der die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit vorangestellt war und der allen „Blick- und Perspektivenwechsel“ ermöglichen würde. Zudem war es mir wichtig, nicht „Fachgespräche“ unter (grünen) Expert_innen zu organisieren, sondern Menschen vor Ort, aus den Tälern, den Alpenstädten Bregenz, Bozen und Innsbruck und verschiedenen Regionen der beteiligten Länder an einen Tisch zu bringen und somit u.a. auch Akteur_innen, die schon angefangen haben, Dinge anders zu gestalten. Es sollte auch vor dem Hintergrund der Entwicklung von EUSALP („Makroregionale Strategie für den Alpenraum“) und dem österreichischen Vorsitz der Alpenkonvention (seit Oktober 2016) über die Gestaltung des Alpenraums diskutiert werden.

Eher zufällig hat sich ergeben (aber nicht minder wichtig!), dass sich die UNESCO im Kontext von Bildung, Handwerk und einem erweiterten Designbegriff wie ein roter Faden durch die Tagung zog: Der Tagungsort ist als UNESCO-Biosphärenpark ausgezeichnet. Die österreichische UNESCO-Studie „Traditionelles Handwerk als immaterielles Kulturerbe und Wirtschaftsfaktor in Österreich“ wurde vorgestellt. Wir besuchten den Werkraum Bregenzerwald, der im vergangenem Jahr in das internationale „UNESCO-Register guter Praxisbeispiele für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes“ aufgenommen worden ist. Die Architektin Anna Heringer, die für die UNESCO schon als Dozentin tätig gewesen ist, konnten wir als Referentin gewinnen. 

Der Einfluss der UNESCO hat sich innerhalb dieser Tagung wie von selbst erschlossen, nicht zuletzt weil diese schon 1998 bei der Weltkonferenz in Stockholm benannt hat, dass nachhaltige Entwicklung und kulturelle Entfaltung wechselseitig voneinander abhängig sind.

MUT ZU EIGENEM DENKEN

Diese Erfahrung habe ich 2014 auch als Teilnehmerin eines ÖAV-Bergwaldprojektes auf der Farnkasernalm 2in Tirol gemacht und wie folgt bereits in der letzten Dokumentation beschrieben:„An beiden Orten war für mich eine Haltung zu spüren, die auf einem Interesse am selbst Denken (Harald Welzer) basierte. Dies braucht zwar mehr Mut, bietet aber die Chance, auch aus den oben genannten vermeintlichen Widersprüchen neue Möglichkeitsräume & Lösungsansätze zu schaffen. 

Was aber sind die Voraussetzungen dafür? Neben der Offenheit, Blickwechsel zuzulassen, ist auch eine andere Form von Wissensvermittlung notwendig. Diese habe ich an beiden Orten in Form einer anderen Beziehungskultur erfahren können: Die Menschen vor Ort haben ihre Ellenbogen nicht eingesetzt, sondern sind auf Augenhöhe aufeinander zugegangen, um ihr Wissen zu teilen sowie dem Anderen bewusst zuzuhören. Dabei sind wechselseitig Verständnis, neue Ideen und Handlungsoptionen gewachsen, die im Alltag und in der Politik fortan Umsetzung finden können.“Damit die Alpen, wie es der Alpenforscher Werner Bätzing formuliert, nicht zu einem Ort zwischen Wildnis und Freizeitpark, verkommen, sollte diese andere Beziehungskultur kontinuierlich im Alltag gepflegt und im Umgang mit der Natur wieder neu erlernt werden. 

ZUKUNFT BRAUCHT VERANTWORTUNG

In der Gesamtbetrachtung bedeutet dies, sich auch im Alpenraum bewusster umzuschauen, Eigenverantwortung zu übernehmen und Natur nicht nur als Material zu betrachten. Eine andere Beziehungskultur macht es möglich, die Potenziale des Gebirgsraums vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Handwerk zu erkennen, sie mit entsprechender Wertschätzung erfolgreich zu nützen und dadurch den Alpenraum lebendig und zukunftsfähig zu erhalten. Ferner sollte man sich nur bedingt auf Tourismuszentren und die weitere Urbanisierung der Talregionen konzentrieren. Denn während vor allem die Hochburgen des Wintertourismus vermeintlich prosperieren, erleben andere Regionen, vor allem im ländlichen Raum, in den Alpen eine Tendenz zur Abwanderung. Um dem entgegenzuwirken, sollte sich der Fokus vor allem auf einer gut funktionierenden Landwirtschaft und dem Handwerk sowie der Vermarktung regionaler hochwertiger Produkte konzentrieren. Dafür erweist es sich als Vorteil, dass nun - während in der Moderne die Aspekte der Regionalität im Design und der Produktion immer mehr zum Verschwinden gebracht wurden - als Gegenbewegung zu einer Wegwerfgesellschaft das Verlangen nach Erzeugnissen mit Biographien aus regionalen und ressourcenschonenden Produktionsverfahren wächst. 

SICH IN PRODUKTEN WIEDERFINDEN

Nachdem Verbraucher_innen lange Zeit durch Massenproduktion von natürlichen, gesunden und handwerklich hergestellten Produkten und deren Wert entfremdet wurden, wünschen sie sich nun wieder einen Bezug zu den Produkten - als Ausdruck stabiler Resonanzverhältnisse (Hartmut Rosa). Daher wird dem Handwerk (hier in einem erweiterten Verständnis, welches die Landwirtschaft integriert), dem handwerkliches und sinnliches Begreifen zu Grunde liegt, eine zukunftsweisende Rolle zugeschrieben, welches auch als Potential für ein Gutes Leben und nachhaltiges Wirtschaften im ländlichen Raum verstanden werden kann. Dies bietet auch berufliche Chancen für Menschen, die beispielsweise nach dem Studium zurückkehren möchten oder überhaupt den Rural Lifestyle bevorzugen.So kann man, wenn man Klasse anhand von hochwertigen Produkten für den regionalen Markt statt Masse für den globalen Markt produziert und dabei die alpine Kulturlandschaft pflegt, eine Schwäche des Alpenraums zu seiner Stärke umkehrt und gleichzeitig als dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum aufgewertet werden. Und wie das Beispiel Werkraum Bregenzerwald mit seinen über 90 Mitgliedern aus 30 unterschiedlichen Fachbereichen zeigt, muss „Rural Manufacturing“ dem „städtischen Design“ in keiner Weise nachstehen und kann sich selbstbewusst präsentieren.

FORDERUNGEN FÜR EINE GUTE ENTWICKLUNG DES LÄNDLICHEN RAUMES

Folgende Rahmenbedingungen sind Voraussetzung, um den Lebens- und Wirtschaftsraum Alpen zukunftsfähig zu gestalten:

  • Neue Stadt-Landbeziehungen, in der das Land sich nicht als „Hinterland“ oder Peripherie versteht, sondern als potentiellen Möglichkeitsraum, um nachhaltige Entwicklung zu gestalten. Der ländliche Raum sollte sich dabei die Aussage „Wenn das Land nicht mehr atmet, ersticken die Städte“ des ehemaligen französischen Premierminister Edgar Faure zu eigen machen.
  • Moderne ökologische Landwirtschaft, die auf nachhaltige Bewirtschaftung und Fruchtbarerhaltung der Böden setzt
  • Unterstützung von kleinstrukturierten Almen, Landwirtschafts- und Handwerksbetrieben, um sie mitsamt ihren regionalen Qualitätsprodukten im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu erhalten
  • Förderung der Eigenversorgung mit Lebensmitteln aus der eigenen Region. Faire Preise für die Landwirtschaft und das regionale Handwerk, ihre Produkte und die Landschaft, die sie gestalten
  • Neue Formen der Zusammenarbeit: regionale und kooperative Partnerschaften von Landwirtschaft, Designer*innen, Handwerk, Lebensmittelgeschäften, Gastronomie und Tourismus, Ein erweitertes Designverständnis, welches Design als Gestaltung von Gesellschaft oder Brücke zu menschlichen Bedürfnissen (Viktor Papanek) versteht Kultur insbesondere im ländlichen Raum als Teil der Daseinsvorsorge verstehen 
  • Stärkung von Frauen-Netzwerken (in der Landwirtschaft, aber auch zu anderen selbständigen Frauen in anderen Berufsfeldern)
  • Mut, sich in neue, ungesicherte Zusammenhänge zu begeben und sie zu hinterfragen sowie in Übergängen zu denken (Harald Welzer)
  • Sensibilisierung für Geschlechterrollen in Unternehmen in den unterschiedlichen Berufsfeldern (z.B. klassische Rollenbilder vs. Bild der modernen Landwirtin und/oder Handwerkerin) sowie das Sichtbarmachen von selbständigen Betriebsleiterinnen als hauptverantwortliche Person/UnternehmerinKritische Reflexion von ökonomischen Zwängen im Neoliberalismus wie z.B. die Definition von Arbeit, in ihrer Auswirkung auf das gute Leben 
  • Stärkung der Demokratie, um den rechtspopulistischen Tendenzen entgegenzuwirken
  • Eine kulturelle Umweltbildung, welche ein zukunftsfähiges Bewusstsein für Mensch, Natur und den Umgang mit Ressourcen in den alpinen Regionen im Sinne des Weltaktionsprogramms „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ schafft und erhält. 


Um dem erweiterten Handwerks- und Designbegriff sowie die Potentiale eines neuen „Rural Lifestyle“ wie auf der Tagung diskutiert erneut auf die Spur zu kommen, habe ich mit der Soziologin Christa Müller, dem Designer Marco Kellhammer sowie mit Thomas Geisler, Geschäftsführer vom Werkraum Bregenzerwald, Interviews geführt. Alle drei waren als ReferentInnen bei der Tagung zu Gast. Ebenso sind Ausschnitte der UNESCO-Handwerksstudie und der Präsentation „Social Design – die Welt zukunftsfähig gestalten“ von Georg Bertsch in dieser Dokumentation zu finden. 

Des Weiteren findet sich ein Auszug aus dem von Liane Bednarz im Tagesspiegel publizierten Zeitungsartikel, der auf ihrem bei der Alpentagung gehaltenen Vortrag „Wo die Welt angeblich noch in Ordnung ist. Die neue Rechte greift auch im ländlichen Raum nach der Mitte“ beruht. Zudem habe ich mehrere Teilnehmer_Innen gebeten, kurz ihre Eindrücke wieder zu geben, welche nun in der Dokumentation nach zu lesen sind.

Dieser Ansatz, nachträglich unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen, kommt der Partizipation und der Vielfalt der Themen, den facettenreichen Perspektiven und den unterschiedlich diskutierten Lösungsansätzen m.E. viel näher und lässt sie lebendig greifbar werden.

An dieser Stelle möchte ich abschließend der Grünen Bildungswerkstatt Vorarlberg sehr herzlich danken, dass sie den Raum für diese 2. Transnationale Alpentagung ermöglicht hat sowie Johannes Rauch, der sich bereits 2015 in Schmirn für die Fortsetzung der Tagung ausgesprochen hat. Auch Thomas Geisler (Werkraum Bregenzerwald), Stefan & Christiane Martin (Stafelalp/ Vorarlberg), Christine Klenovec (Biosphärenpark Großes Walsertal), Robin Silberberger (Farnkaseralm/Tirol) und dem Team der Propstei bin ich zu großem Dank verpflichtet, denn sie haben mir (weiterhin) ihr Wissen über Berglandwirtschaft, Design, Handwerk, Kräuter und die Region erfahrbar gemacht und so mein Interesse an diesen Themen und Orten lebendig gehalten! Mich haben die Kühe auf der Farnkaseralm ins Große Walsertal und zum Käsen in der handwerklichen Milchverarbeitung geführt.

Ausgehend von diesen ersten Almerfahrungen, ist ein anderes Verstehen von Kühen und ihrem Produkt Milch gewachsen. Der andere Umgang mit Kühen lässt mich auch kulturelle Kodierungen und Denkmuster, die bspw. hinter dem Wachstumsmythos stehen und sich an der aktuellen Milchkrise („Bauer unser“) ablesen lassen, hinterfragen und stärken meine Idee, weiterhin bei den Transnationalen Alpentagungen der Grünen Bildungswerkstatt gemeinsam ein überzeugendes Zukunftsbild für den Alpenraum zu entwickeln und zu gestalten.Dank gilt zudem allen Teilnehmer_innen, ihr Mitwirken hat zum Gelingen der Tagung maßgeblich beigetragen!