Aulenbacher - Ein gutes Leben für alle
Die Selbst- und Fürsorge ist ein traditionsreiches Thema. Seit langem gehen Sorgeethiken mit einem Sorgeverständnis einher, das die Forderung nach einem guten Leben für
alle in anhaltend aktueller Weise einschließt. So gilt Sorge als „eine Gattungstätigkeit, die alles umfasst, was wir tun, um unsere ‚Welt‘ so zu erhalten, fortdauern zu lassen und wiederherzustellen, dass wir so gut wie möglich in ihr leben können. Diese Welt umfasst unseren Leib, unser Selbst und unsere Umwelt, die wir in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz miteinander verflechten.“1
Gelingendes ist lebensdienliches Sorgen mit Blick auf die Selbst- und auf die Fürsorge, somit auf das eigene Leben und das der anderen. Daher hat sich die
Art und Weise, wie Sorgebeziehungen, -tätigkeiten und -arbeiten gesellschaft-lich ausgestaltet werden, daran zu bemessen, ob sie der Selbst- und Fürsorge
mit Blick auf ein gutes Leben für alle zuträglich sind.
Sorgekrisen: Unvereinbarkeiten von guter Sorge und guter
Arbeit, Selbst- und Fürsorge
Mit Blick auf den demografischen Wandel und die gesellschaftliche Alterung, die steigende Frauenerwerbsbeteiligung, die sukzessive Aufkündigung bisheriger Geschlechter- und Generationenarrangements in der Angehörigenbetreuung, das Aktivierungsparadigma und Social Investment-Politiken u.a.m. ist der österreichische Wohlfahrtsstaat seit geraumer Zeit in Bewegung. Stichworte sind: ein modernisiertes Male Breadwinner-Modell, Cash-for-Care-Politiken, mobile Dienste, die Legalisierung der 24-Stunden-Betreuung mit Blick auf den Privathaushalt, der Übergang vom Betreuungs- zum Bildungsauftrag in der öffentlichen Kinderbetreuung, die Neuorganisation des Pflegesektors nach wirtschaftlichen Effizienz- in Verbindung mit pflegewissenschaftlichen Qualitätskriterien u.a.m. Der privatwirtschaftliche gewinnt gegenüber dem staatlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektor an Bedeutung, was die profitabel vermarktbaren Sorgeleistungen angeht. Alternative Betreuungsformen wie Mehrgenerationen-Häuser, Wohn-Pflege-Gemeinschaften etc. sind die Ausnahme. Wie alle bisherige wohlfahrtsstaatliche Organisation des Sorgens gehen auch ihre gegenwärtigen Formen mit sozialen Ungleichheiten einher. Außerdem spitzt sich der Widerspruch zwischen guter Sorge und guter Arbeit und zwischen Belangen der Selbst- und der Fürsorge weiter zu, die Menschen müssen sich mit den Missständen die gelingendes Sorgen behindern, alltäglich auseinandersetzen. Zitate aus der Erforschung der stationären Pflege und der 24-Stunden-Betreuung zeigen dies beispielhaft: „(W)ird einmal in der Woche geduscht und Haare gewaschen, empfinden (es) meine Mitarbeiter nicht als gute Pflege (…)“. „(U)nd wir spüren gerade auch im Pflegebereich in den letzten Jahren wirklich auch eine dramatische Zunahme von Langzeitkrankenständen (…).“2 „Meine Frau ist berufstätig, noch, und ich bin in Pension. Ich kann mich aber nicht 24 Stunden zu ihr setzen, zur Mutter (…).“ „Auch wenn ich will und ich sage, ich will den vierfachen Preis zahlen. Kommt keiner, weil sich kein Österreicher das antut. […] Und es ist im Prinzip wie Sklavenhandel, nicht?“3
In der Alltagskritik kommen Belastungen, Überforderungen, Skandalisierungen der Zustände zum Ausdruck, die zeigen, dass Menschen im gegebenen wohlfahrtsstaatlichen Rahmen und unter gegebenen Arbeitsbedingungen nicht angemessen für sich und andere sorgen können. Es handelt sich nicht um Einzelkritiken, sondern die Sorgeproteste der letzten Jahre zeigen, dass die aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Konzepte an Legitimität eingebüßt haben und Alternativen in der Zivilgesellschaft längst diskutiert werden.
Ein sorgsamer und solidarischer
Wohlfahrtsstaat
Austerität bildet eine schwierige Rahmenbedingung, um über neue Wege wohlfahrtsstaatlichen Sorgens nachzudenken, zum einen, weil Veränderung in der Regel Geld kostet, zum anderen, weil unbezahlte Arbeit, also Freiwilligenarbeit, Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement u.a.m., argumentativ schnell bei der Hand ist, um Sorgelücken zu füllen, wo bezahlte Arbeit zu teuer erscheint. Allerdings kommt der gegenwärtige Zustand des Sorgens die Gesellschaft ebenfalls teuer zu stehen, und zwar finanziell und sorge-ethisch, was die Beeinträchtigungen des guten Lebens sowohl der Betreuten und der Betreuenden, beider Angehöriger, die Folgekosten für das Gemeinwesen und ein gelingendes Zusammenleben angeht. Das zeigt sich in Österreich und anderenorts, wenn, wie im Falle der 24-Stunden-Betreuung, hier erbrachte Sorgeleistungen dort Sorgelücken aufkommen lassen.
Sorgsamkeit und Solidarität eignen sich daher als zwei Achsen, um darüber nachzudenken, wie Sorgebeziehungen, -tätigkeiten und -arbeiten so organisiert werden können, dass sie ein gutes Leben für alle mit einem gelingenden Zusammenleben der vielen vereinen. Sorgsamkeit steht für die Suche nach lebensdienlichen Wegen und Formen der Selbst- und Fürsorge, die im Sinne der Solidarität nicht auf Kosten anderer gehen. Genau gegenläufig zum Aktivierungsparadigma, das vormals wohlfahrtsstaatlich erfüllte Aufgaben und Funktionen den Einzelnen anlastet, geht es hier darum, den Wohlfahrtsstaat wieder zu aktivieren, und zwar im Sinne der Zivilgesellschaft. Der Weg zu einem sorgsamen und solidarischen Wohlfahrtsstaat ist ein notwendig dialogischer, streitbarer und partizipatorischer Weg, der alle, Betreute, Betreuende, Angehörige, Interessenvertretungen, Initiativen u.a.m., einbezieht, die ihre Vorstellungen dazu einbringen wollen, welche Sorgebelange privatwirtschaftlich, staatlich, im dritten Sektor, im Privathaushalt, in sozialen Netzen bezahlt und unbezahlt verrichtet, welche der beschrittenen Wege weiter verfolgt oder verlassen werden sollen und welche Lebensweise wir uns leisten können, ohne auf Kosten anderer für uns zu sorgen. Solche Formen dialogischer und partizipatorischer Demokratie und zivilgesellschaftlicher Bündnisse haben es in Zeiten der Austerität ebenfalls schwer, aber eine Alternative zum Weiter-wie-bisher sind sie allemal.
1 Fisher/ Tronto 1990, Towards a Feminist
Theory of Caring … , S. 40
2 Dammayr 2015, „Menschlichkeit pflegen“..., S. 328 f.
3 Bachinger 2015, 24-Stunden-Betreuung als Praxis …, S. 485, 488
Professorin Brigitte Aulenbacher leitet die Abteilung für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen am Institut für Soziologie der Universität Linz.