Dauerhaft gute Lebensqualität für alle
Wussten Sie, dass im Osaka des frühen 18. Jahrhunderts Häuser mit mehr Mietern weniger Gesamtmiete zahlten als andere? Dies lag daran, dass menschliche Fäkalien ein so wertvoller Dünger waren. Mit dem Wert der Fäkalien von 20 Personen konnte eine Person mit Reis oder anderem Getreide ernährt werden. „In den Nachttopf geblickt“ ist eines von 60 Beispielen, in denen Verena Winiwarter und Hans-Rudolf Bork in ihrem Bildband „Geschichte unserer Umwelt – Sechzig Reisen durch die Zeit“ das Zusammenspiel von Mensch und Natur beleuchten. Hochwasser und Flussbegradigungen, Nilbarsche im Victoriasee und Kaninchen in Australien oder Ölunfälle und brennende Flüsse – immer wieder werden die Veränderung der Natur und die folgenden, oftmals unerwarteten Konsequenzen dargestellt. Nicht immer ist der menschliche Eingriff so problematisch wie bei der weitgehenden Ausrottung des Heilbutt, aber oftmals gelingt es auch durch bewusste, rationale Planung nicht, die Folgen menschlicher Intervention richtig einzuschätzen: Sei es aufgrund mangelnden Wissens, wie im Fall der Venezianer, die ihre Eichenwälder gerade durch vermeintliche Schutzmaßnahmen wie das Verbot von Waldweide und Feuerholzernte weitgehend zerstörten; sei es aufgrund der durch ForscherInnen und TouristInnen eingeschleppten Tiere auf den Galápagosinseln.
Die Beispiele für sich sind anregend. Doch ebenso spannend sind die Konsequenzen, die Winiwarter und Bork für die Zukunft ziehen. Für sie ist Umweltgeschichte keineswegs bloß der kritische oder nostalgische Blick zurück. Geschichtliche Ereignisse stellen oftmals die einzige Erfahrung dar, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen und Lehren für ein gelingendes Zusammenspiel von Gesellschaft und Natur zu ziehen. Allzu oft zeigt sich hierbei, dass Machtstrukturen und Gewohnheiten weitblickendes Handeln verhindern.
Eine zentrale Einsicht ist, dass die Zeit seit 1850 ein historisch einzigartig ist. Die industrielle Revolution, basierend auf fossilen Energieträgern, hat zu einer großen, unterschiedlichste Bereiche erfassenden Beschleunigung geführt. Ob Weltbevölkerung oder Sozialprodukt, Papier- oder Düngemittelverbrauch, in vielfältigsten Bereichen beobachten wir exponentielle Anstiege, die naheliegen, dass dieses expansive Produktionsmodell kapitalistischer Marktgesellschaften nicht zukunftsfähig ist. Ein grundlegendes Umdenken ist notwendig. Die Wissenschaft wäre gefordert, Alternativen zu entwickeln. Jedoch gibt es offensichtlich systematische Hindernisse, aus eingefahrenen Bahnen, Disziplinen und Weltsichten auszubrechen. Doch je mehr Menschen mit unterschiedlichen Kenntnis- und Erfahrungshintergründen Wissen gemeinsam generieren, so die AutorInnen, desto robuster wird es. So lautet eine der Empfehlungen, partizipative Verfahren der Wissensgenerierung auszubauen: „Das ist eine der Voraussetzungen für die Schaffung einer dauerhaft lebenswerten Welt für Alle, durch Alle (Seite 160).
Die zweite Empfehlung schließt an diese demokratische Grundüberzeugung an und verbindet die egalitäre Vision einer nachhaltigen Gesellschaft mit dem Prinzip der Vorsicht. Es gibt nämlich unterschiedliche Milieus mit verschiedenen Lebensstilen und damit einhergehend anderen Naturbildern. Individualisten hilft der Glaube an die unsichtbare Hand des Marktes, darauf zu vertrauen, dass auch die Natur letztlich ein Gleichgewicht finden wird. Hierarchisten setzen darauf, dass wohlmeinende Eliten oder Diktatoren mit Regulierungen und Kontrollen den notwendigen Rahmen setzen, innerhalb dessen sich die Natur friedlich reproduziert. Fatalisten wiederum sehen Natur als erratisch und unberechenbar und sehen daher keinen Sinn für Rücksicht, Einsicht oder Voraussicht. Egalitär denkenden Aktivisten, der vierten Gruppe, kommen Umweltprobleme entgegen, weil eine Welt für Alle, durch Alle ihrem Weltbild entspricht und sie wollen, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können.
Die Umweltgeschichte kann niemanden die Entscheidung abnehmen, welche dieser Lebensstile gewählt werden. Sie kann aber die jeweiligen, aus Lebensstilen folgenden Naturkonzepte bewerten: „Im Sinne einer Verantwortung für künftige Generationen ist es klüger, sich die natürlichen Systeme als fragil vorzustellen. Es ist besser, auf der sicheren Seite zu irren“ (Seite 161). Dies ist ein Plädoyer für eine vorsorgende Gesellschaft, in der Empathie für die Nächsten, aber auch die Fernsten, ja sogar die noch nicht Geborenen gefragt ist. Wissenschaft hat hierbei auch die Aufgabe, positive Visionen möglicher Zukunft zu entwickeln. Der Politik kommt die Aufgabe der Gestaltung des Gemeinwesens zu: Es gilt, die Voraussetzungen zu schaffen, damit nicht nur einzelne Individuen für sich vorsorgen – das kann systemisch sogar schädlich sein, wie das Beispiel des verbreiteten Wunschs zeigt, „im Grünen“ zu wohnen –einer der Triebkräfte der Zersiedelung. Eine vorsorgende Gesellschaft ist demgegenüber ein rücksichtsvolles, vorsichtiges und empathisches Gemeinwesen, das ein klares Ziel hat, wie mit den großen Herausforderungen von Klimawandel, Ernährungs- und Energiesicherheit umzugehen ist: „Langfristig gute Lebensqualität für alle“ (Seite 9).
Winiwarter, Verena/Bork, Hans-Rudolf (2014): Geschichte unserer Umwelt. Sechzig Reisen durch die Zeit. Darmstadt: WBG.
Andreas Novy ist Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.