Ein neuer Job beginnt meist aufregend, anstrengend und leicht chaotisch. Im Europaparlament ist es nicht anders – nur noch alles etwas extremer. Wir arbeiten in zwei Dutzend Sprachen in den offiziellen Meetings, Englisch in den inoffiziellen, Deutsch im Büro und nach Feierabend muss ich mit meinem Französisch noch den Alltag organisieren. Die grüne Fraktion hat 55 Mitglieder, die Zuteilung der Arbeitsbereiche sind harte Verhandlungen. Ich bin für Wettbewerbspolitik zuständig, also wie Länder von Konzernen sozial- und umweltpolitisch gegeneinander ausgespielt werden. Und das Freihandelsabkommen TTIP. Und für Energiepolitik. Und den Telekom-Sektor. Das Kulturbudget 2015. Den Eurobeitritt Litauens.
Das Personal im EP ist großartig, zu jedem Thema bekomme ich hervorragend recherchierte Unterlagen. Hunderte Seiten, jeden Tag. Die Lernkurve ist brutal. Irgendwann geh ich zum Durchatmen auf den Gang, da sagt jemand zu mir: „Du bist doch dieser Österreicher. Wir müssen unbedingt die neue Gas-Pipeline verhindern, die Putin bei euch plant“ und drückt mir wieder 200 Seiten in die Hand.
Aber: Wenn man was tut, dann passiert auch was. Ich bin auch für den Irak zuständig und fliege nach Erbil, um Flüchtlingslager zu besuchen. Ich bekomme einen Live-Einstieg in der Zib2 und kann das Außenministerium auffordern, Soforthilfe für die humanitäre Katastrophe freizugeben. Am nächsten Tag wird tatsächlich eine Million Euro genehmigt. Das ist schlagartig alle Strapazen wert. Und auch die 952 Seiten Vertragstext zum Kanada-Abkommen, die ich gerade gemailt bekommen habe…
Michel Reimon ist seit Juli 2014 Abgeordneter zum Europäischen Parlament.