Maißer - Kein Sozialstaat hinter Festungsmauern
Warum kümmert es uns, wie Menschen in anderen Ländern leben? Ist nicht jede/r des eigenen Glückes Schmied? Wer über die weltweite Ungleichheit nachdenkt, gerät schnell in prinzipielle Diskussionen über die Vor- und Nachteile von Entwicklungszusammenarbeit, über Freihandel, Kapitalismus, Korruption, Rohstoffe und
Kapitalflüsse.
Wer ist schuld?
Analysen und Rechtfertigungen laufen dabei oftmals auf zwei Gegenpositionen
hinaus: Entweder wird die aktuelle Situation als bedauerliches, aber doch letztlich
notwendiges Produkt grundsätzlicher Unterschiede zwischen Menschen und
Kulturen dargestellt. Oder aber sie wird als historisches Ergebnis von fortgesetzt ungerechten Rahmenbedingungen gesehen, die auch anders, also gerecht(er), sein könnten. Diese vermeintlich akademischen Diskussionen könnte man endlos fortführen, vielleicht verbunden mit der mehr oder weniger berechtigten Hoffnung auf die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO – dann würde im Jahr
2030 endlich niemand mehr hungern.
Doch werden wir bei unseren Überlegungen gerade von der Realität eingeholt, weil wir einen Faktor ignoriert haben: die Zeit. Nämlich die Lebenszeit, die Menschen nicht im Überfluss haben und daher nicht untätig im Elend und ohne Hoffnung verbringen können.
Das betrifft junge Menschen, die eine Ausbildung, aber keinen Job und daher keine Aussicht auf eine Familie haben; Kinder, die in Flüchtlingslagern keine Schule besuchen können; Männer und Frauen, die aus ihrem Berufsleben gerissen wurden und in Ländern und Lagern sind, wo sie das Schicksaal von Hunderttausenden teilen: Von der unsicheren Versorgung mit Lebensmitteln abhängig zu sein, ohne die Hoffnung, durch eigene Initiative etwas für sich und die eigenen Kinder schaffen zu können.
Initiative statt Resignation
In diesen Situationen brechen jene, die noch Verantwortung für sich und ihre Familie übernehmen wollen und können, auf, um anderswo doch noch die Chance auf ein besseres Leben zu bekommen.
Die Menschen haben mittlerweile die Möglichkeit, über das Internet ihr Leben mit unserem zu vergleichen. Sie wissen, dass 20 Prozent der Menschen auf dieser
Welt 80 Prozent der Rohstoffe verbrauchen. Die große Mehrheit wird sich das nicht auf Dauer gefallen lassen. Noch dazu, wo bereits jetzt aufgrund unserer Übernutzung pro Jahr die Ressourcen von eineinhalb „Planeten“ verbraucht werden und daher ein „Leben wie bei uns“ schon rein technisch nicht für alle
machbar wäre.
Appelle an Geduld werden immer unglaubwürdiger, je öfter sich Zusagen einer fairen Zusammenarbeit als leere Versprechungen entpuppen. So wird
die weltpolitische Lage offensichtlich immer instabiler. Menschen gehen zum (vermeintlich) guten Leben, weil es nicht zu ihnen kommt. Aber die Abwehrhaltung gegen Migration – und vor allem die offene Feindschaft gegenüber „Wirtschaftsflüchtlingen“ – wird stärker.
Zum Scheitern verurteilter Mauerbau
Im Westen wächst die Bereitschaft, die offensichtliche Ungerechtigkeit auch mit Gewalt zu verteidigen. Ob der jetzt in Gang gesetzte Mauerbau in der Lage sein wird, die Menschen davon abzuhalten nach Europa zu kommen, wird sich noch zeigen. Doch fest steht, dass selbst der kurzfristige „Erfolg“ dieses Modells einen hohen Preis hat.
Die ersten Leidtragenden sind Kriegsflüchtlinge und andere Vertriebene.
Aber erinnern wir uns auch, wie gering die Unterstützungsbereitschaft unserer Bundesregierung war, als es galt, auch nur ein paar Euro pro Flüchtling auszugeben, als diese noch in Camps im Libanon oder in der Türkei saßen; und wie hartnäckig die Regierungen in Österreich und Deutschland auf Dublin pochten, als nur die europäische Peripherie, vor allem Griechenland und Italien, mit den ankommenden Flüchtlingen zu tun hatte. Erst als sich die menschlichen Tragödien hier, in einem Lieferwagen auf der öster-reichischen Autobahn, ereigneten, wurde das zuvor noch hochgehaltene Dublin 3 Abkommen plötzlich zum Problem.
Es ist also davon auszugehen, dass ein Erfolg der Mauer zu sofortiger Rückkehr der Passivität führen würde. Die mit westlichen Waffen geführten Kriege, die mit
Geld aus Öl- und Rohstoffhandel befeuerten Konflikte würden uns wieder nichts angehen.
Archaische Abgrenzungsmuster werden benutzt, um zwischen gut und böse, weiß und schwarz, uns und ihnen zu unterscheiden. Rassismus, Xenophobie und ein umfassender Diskurs der Abwertung und Entmenschlichung jener, die mit ihrer Armut vermeintlich unseren Wohlstand bedrohen, werden sich vermutlich weiter verschärfen.
Manche PublizistInnen meinen, „Migration und Sozialstaat sind unvereinbar“, und freuen sich darüber, weil sie seit Jahren gegen beides kämpfen. Der Rechtsruck
richtet sich daher nur in einer ersten Stufe gegen die MigrantInnen. Die zweite
Stufe der Eskalation folgt unmittelbar darauf und es ist, wie überall, wo Rechts-populistInnen an die Macht gekommen sind, mit dem Abbau des Sozialstaates auch für die Mittelschicht zu rechnen. Einen Sozialstaat hinter Festungsmauern wird es nicht geben.
Die Antwort auf die Krisen kann kein Zurück zu einer verklärten homogenen Nationalkultur sein, sondern nur die mutige Gestaltung eines neuen Gemeinwesens, in denen Menschen in Vielfalt, aber mit gleichen Rechten und Chancen leben können.
Globale Solidarität statt Festung Europa
Das erfordert erstens das klare Bekenntnis zu Solidarität und Menschenrechten als Grundlage einer friedlichen Welt. Österreich muss seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllen und offen bleiben für Schutzsuchende.
Zweitens braucht es Bescheidenheit, denn auch das Helfersyndrom ist eine Form von Überheblichkeit. Niemand ist für das ganze Elend der Welt alleine verantwortlich, Österreich kann aber die Lage mit gutem Willen, ohne Hysterie und ohne Recht und Ordnung über Bord zu werfen, bewältigen.
Drittens schließlich braucht es den viel entschiedeneren Einsatz Österreichs und Europas für eine neue Wirtschaftsordnung. Es braucht keine Festungen gegen Menschen, sondern klare Regeln gegen eine ungezügelte Weltwirtschaft, die dem exklusiven Interesse einer verschwin-dend kleinen reichen Minderheit dient: Austrocknung der Steueroasen, strenge Einschränkungen von Waffenexporten und Finanzmärkten und ein Ende von als Freihandel maskiertem Sozial- und Umweltdumping. Das würde es BäuerInnen, FischerInnen, IndustriearbeiterInnen und Gewerbetreibenden ermöglichen, in ihren Ländern ein gelungenes und würdiges Leben zu führen – kurzum, all dies bekämpft die Migrationsursachen vor Ort.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bei uns einen Konsens, Frieden und Menschenrechte zur Grundlage des Zusammenlebens auf diesem Planeten zu machen. Bis heute ist eine derartige visionäre Politik allemal realistischer als ein Festungsbau in Zeiten der Globalisierung.
Georg Maißer leitet die Medienarbeit der Grünen Bildungswerkstatt Österreich.