Medien und Wahlen in Brasilien: einige Anmerkungen
Die Präsidentschaftswahl von 2014 war die siebte seit der Redemokratisierung des Landes im Jahr 1989 nach der Verkündung der neuen Bundesverfassung von 1988. Die vier großen Medienkonzerne, welche die Massenkommunikation in Brasilien monopolisieren, traten zum siebten Mal gegen die Arbeiterpartei (PT) im Kampf um das Amt des Präsidenten der Republik an. Organizações Globo, Grupo Folha, Grupo Estado und Editora Abril hatten immer gegen Kandidaten der PT Stellung bezogen: in den fünf ersten Wahlen (1989, 1994, 1998, 2002 und 2006) gegen Lula, seitdem (2010 und 2014) gegen Dilma Rousseff. Abgesehen von Fernando Collor de Mello, einem Dissidenten der Oligarchien aus Nordostbrasilien, der sich Anfang der 90er Jahre zum Anwalt des neoliberalen Projekts aufgeworfen hatte, haben die Medienkonzerne immer für die sich selbst so bezeichnende Sozialdemokratische Partei Brasiliens (PSDB) geworben, die das von Collor begonnene Vorhaben während der beiden Mandate von Fernando Henrique Cardoso fortgeführt hat. Von Anfang an war die PSDB eine sozialliberale. So haben sie Fernando Collor de Mello, Fernando Henrique Cardoso, Geraldo Alckmin, José Serra und schließlich, in der Stichwahl 2014, Aécio Neves unterstützt - nach einem kurzem und begeisterten Flirt mit Marina Silva, die in Österreich als Umweltschützerin bekannt ist. Nach dem bei einem Flugzeugunglück verstorbenen Eduardo Campos sprang Marina als Kandidatin ein. Marina schien bestens geeignet als Alternative zur PT. Sie hatte der PT angehört, aber deren Umweltpolitik kritisiert, gleichzeitig aber wirtschaftsliberale Ansichten. Außerdem hatte sie Sympathisanten unter den jungen Angehörigen der Mittelschicht, die im Juni 2013 auf den Straßen demonstriert hatten. Die PT verwies ihrerseits auf ihre Erfolge: sozial- und wirtschaftspolitische Errungenschaften, Einkommensumverteilung, Wiederaufnahme der staatlichen Investitionen und die verstärkten Süd-Süd-Kooperationen.
In allen Wahlen hatte das von den Medien und der PSDB gebildete Oligopol offensiv das wirtschaftsliberale Projekt verteidigt und widerwillig zugegeben, dass es viele soziale Errungenschaften gegeben hat, die auch eine rechte Regierung nicht zurücknehmen wird – zumindest nicht vor der Wahl. Die wichtigsten Waffen waren jedoch in den letzten Jahren der moralisierende Diskurs und die Spekulation mit der Angst der Wähler. Ansonsten war nichts eigentlich Neues zu vermelden. Seitdem nach 1930 erstmals auch die städtische Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterschaft, soziale Rechte erworben und zu einem politischen Subjekt geworden war, hatten die Konservativen immer wieder auf die Waffe des Moralismus zurückgegriffen. Der Freitod von Präsident Getúlio Vargas 1954 war die Antwort auf ein geradezu infernalisches Bombardement gegen den Staatspräsidenten mit Anschuldigungen seitens der gleichen Gegner, die sich heute auf Lula und Dilma Rousseff einschießen. Der Staatsstreich von 1964 und die Absetzung von João Goulart folgten der gleichen Logik. Reformen, die, selbst im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die arbeitenden Massen in die Politik einbezogen, sind immer von den brasilianischen Eliten extrem negativ beurteilt worden. Die Wurzeln dieses Verhaltens liegen in der Sklavenhaltergesellschaft – in Brasilien endete die Sklaverei erst am Ende des 19. Jahrhunderts (1888). Ihre Folgen sind bis heute nicht überwunden sind.
Früher wurde das Angstgespenst des Kommunismus beschworen. Wer kann jedoch nach dem Fall der Berliner Mauer noch von einer kommunistischen Gefahr sprechen? Einige Nostalgiker der Rechten verweisen heute noch auf Kuba. Selbst nach der Wiederwahl von Dilma Rousseff zogen rechte Demonstranten durch die Straßen und brüllten "Geht nach Kuba!" Ganz zu schweigen von der Hysterie der "bolivarianischen" Gefahr, die Leitartikel der Medienoligopole aufwärmten – ein Verweis auf die Politik von Hugo Chavez in Venezuela.
1989, 1994, 1998 und 2002 wurde der Angstdiskurs eingesetzt: Lula würde Brasilien in eine Art gigantisches Kuba verwandeln. In den Wahlen von 2006 und 2010 dominierte der moralistische Diskurs. Dieser ist entweder religiös grundiert oder bezieht sich auf ein Ideal der 'anständigen, korruptionsfreien Verwaltung'. Lula sei ein "Befürworter der Abtreibung", die PT dulde die Korruption und besetzt öffentliche Stellen mit ihren Anhängern.
2006 stand das Thema der "Ethik" im Mittelpunkt des Wahlkampfs, infolge des Mensalão-Skandals, der in Wahrheit auf einen Schwarzgeldfonds zurückging, den auch die früheren Regierungen nutzten. Es ist wichtig festzuhalten, das Schwarzgeld ein strukturelles Element im politischen System Brasiliens ist: Kandidaten brauchen viel Geld für ihre teuren Persönlichkeitswahlkampagnen. Die Medien versuchten das Wahlergebnis zu beeinflussen, in dem sie eine Lawine von Leitartikeln und "Reportagen" entfesselten. Diese Reportagen werden von vielen Kritikern "reporcagens" genannt. Das Wortspiel, das durch die Ersetzung eines Buchstabens zustandekommt, ist unübersetzbar, aber ich werde es kurz erklären: "Reporcagem" kommt von "porco", dem portugiesischen Wort für Schwein. Wörtlich bedeutet es eine "neu aufgewärmte Schweinerei", die von Medien in Umlauf gebracht wird.
Es gibt sogar in den Social Media und alternativen Blogs ein Kürzel für die kommerziellen Medien: PIG. PIG ist seinerseits ein Wortspiel mit dem englischen Ausdruck für Schwein, pig. Auf portugisiesich heißt es "Partido da Imprensa Golpista" - PIG, auf Deutsch "Partei der putschenden Presse" - womit ich wieder beim Thema meines Beitrags bin. In diesen Leitartikeln und Reportagen hat die sich wie eine politische Oppositionspartei aufführende Presse versucht, die Stichwörter für die Diskussionen zwischen den Kandidaten zu geben. So ist die PIG sehr öffentlichkeitskeitswirksam und fast hegemonial. Doch seit den Wahlen 2006 bilden die Social Media, die sozialen Netzwerke und Blogs, einen kontrollierenden Gegenpol zum Diskurs der Medienoligopole. Es gelingt ihnen, den Diskurs der politischen Rechten zu relativieren.
2010 haben die Medien dann zugunsten des PSDB-Kandidaten José Serra im Wahlkampf Dilma Rousseff der Korruption beschuldigt und dies mit der These, dass die Kandidatin der PT "für die Abtreibung" sei, kombiniert. Die vermeintlich liberale Folha de São Paulo hat diesbezügliche Erklärungen von Dilma Rousseff in Erinnerung gerufen bzw. aufgefrischt. Die Kandidatin reagierte aus Angst vor der starken Lobby der Evangelikalen ausweichend. Die Summe der Errungenschaften der beiden Regierungsmandate von Lula konnte verhindern, dass die Diskussion sich auf diese Frage und das Thema der Korruption beschränkte. Die fast unbekannte Dilma Rousseff wurde schließlich zur Nachfolgerin Lulas gewählt.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Wahlkampfklima nie endet. Die Medien versuchen jedes Jahr, jeden Monat, jeden Tag, ja stündlich ihre Agenda durchzusetzen. So begann der Wahlkampf von 2014 eigentlich zwei Jahre vorher, als die Präsidentin in der Beliebtheitsskala noch sehr gut positioniert war. Damals wurde klar, dass die Medien praktisch die Rolle einer Partei oder Ersatz-Partei übernommen haben, indem sie den Oppositionspolitikern das Tempo der Konflikte diktierten. 2010 hatte die Vorsitzende des brasilianischen Zeitungsverbands sogar öffentlich gesagt, dass "die Medien de facto die oppositionelle Position in Brasilien vertreten, da die politische Opposition zutiefst geschwächt ist".
Im Laufe der letzten drei Jahre ist die feindliche Haltung gegenüber der PT tagtäglich angeheizt worden. Zahllose Themen boten sich an: Da war zuerst der Mensalão-Prozess. Der Präsident des Obersten Bundesgerichtshofs, Barbosa, schlüpfte in die Rolle eines Racheengels, der mediale Vorverurteilungen juristisch umsetzte. Der Prozess, der 2006 startete, endete genau in den zwei letzten Wochen des Gemeinderatswahlkampfs 2012. Die Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen im Juni 2013 wurden zuerst von der Polizei unterdrückt. Zu diesem Zeitpunkt kritisierten die Medien die Demonstranten als Randalierer, als Black block, etc. Erst in einem zweiten Moment wurden die Demos von den Medien uminterpretiert als Kritik an der Regierung. Es war dies der Moment, als auch die internationale Berichterstattung begann. Selbst das Fiasko der brasilianischen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM wurde gegen die Regierung instrumentalisiert. Weitere regelmäßige Kritikpunkte waren die „Inflation“, obwohl die Preiserhöhungen in Brasiliens Geschichte noch nie so niedrig waren wie heute; der „desaströse Zustand des Staatshaushalts“, obwohl die Staatsverschuldung viel geringer ist als in Europa. Ein aktuelles Beispiel betrifft die in der Verfassung vorgesehene „sozialen Teilhabe“, d.h. die Möglichkeit der Bevölkerung via Kommissionen die Verwaltung zu unterstützen. Dilma Rousseff brachte nach den Demonstrationen 2013 einen Regierungsvorschlag ins Parlament. Das Parlament blockierte die Vorlage und die Medien kriminalisierten es als einen Schritt in Richtung „Venezuela“, „Bolivarianismus“.
Heute sind wir in der Lage, die Rolle der Medien systematisch zu bewerten. Das Institut für soziologische und politikwissenschaftliche Forschung der Universität des Bundesstaats Rio de Janeiro hat eine Website eingerichtet (http://www.manchetometro.com.br), auf der die täglichen Berichte der sogenannten "großen Presse", also der überregionalen Tageszeitungen Folha de São Paulo und O Estado de São Paulo und die Fernseh-Tagesschau (Jornal Nacional) von TV Globo ausgewertet werden. Die drei wichtigsten Kandidaten der Präsidentschaftswahlen waren seit Anfang 2014 in diesen Medien Gegenstand von 275 Titelgeschichten. Aécio Neves (PSDB) wurden 38 Titelgeschichten gewidmet, 19 pro und 19 contra. Dilma Rousseff war 210mal das Thema von Titelgeschichten, ganze 93% dieser Reportagen zeichneten ein negatives Bild von ihr! Sie müssen darüberhinaus noch bedenken, dass diese Medienkonzerne Wahlprognosen in Auftrag geben, die eindeutig das Ziel verfolgen, den Wähler zu manipulieren.
Im zweiten Wahlgang im Oktober 2014 zeichnete sich ein Wahlsieg von Dilma Rousseff ab. Wie schon 1989 wurde nach der letzten Fernsehdiskussion am Donnerstag in Millionenauflage eine „Sensationsgeschichte“ veröffentlicht. Die Wochenzeitschrift Veja behauptete, Lula und Dilma seien über Korruptionsskandale des staatlichen Ölkonzerns Petrobras „informiert“ – all dies ohne Absicherung durch Tatsachen. Die Oppositionspartei verteilte diese Nummer der Veja in den letzten Stunden vor der Wahl. Die Möglichkeiten der PT zur Gegendarstellung war gering. Nach der Wahl haben die Staatsanwaltschaft und die Wahlaufsichtsbehörde diese Absicht der Wahlmanipulation festgestellt. Bis heute gibt es noch keine Konsequenzen gegen Veja. Aber auch hier waren die social media wieder einmal, allerdings intensiver als früher, verantwortlich für die Entwicklung einer Gegenposition gegen die politische Rechte, die sich ebenfalls des Netzwerks bediente.
Der PSDB-Kandidat Aécio Neves hat bekanntlich die Wahl verloren. Seine Partei hat allerdings bei der Wahlaufsichtsbehörde ein Verfahren angestrengt und das Wahlergebnis wegen der „geringen Stimmenmehrheit“ (3.500.000 Stimmen Unterschied) von Dilma Rousseff angefochten. Sie hatte damit aber keinen Erfolg. Zwei Wochen nach der Stichwahl haben Angehörige der Mittelschicht auf der Straße demonstriert und die Amtsenthebung der Staatspräsidentin und die Rückkehr der Militärs in einem an Faschismus grenzenden Diskurs gefordert - eine vorhersehbare Folge der von den Medien geschürten Kriminalisierung der Politik.
Den Medienkonzernen verblieb nichts, als den Sieg von Dilma Rousseff anzuerkennen, aber sie hörten nicht auf, der Regierung die politische Linien vorzugeben, indem sie sie zu strategischen Entscheidungen bei der Auswahl der Kabinettsmitglieder verleiteten, insbesondere bei der Besetzung des Finanzministeriums. Das neue, von Dilma gebildete Kabinett scheint im Moment ein Versuch zu sein, das große Arrangement der Regierungsperioden von Lula neu aufzulegen. Hier meine Diagnose: Es erwartet uns ein prekäres Gleichgewicht und die Erfolgsaussichten sind diesmal angesichts der Wirtschaftslage ungewiss.
Teile der Regierung sind sich bewusst, dass die Medien eine politische Rolle spielen. Die Präsidentin selbst spricht von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Regulierung der Medien. So diskutiert die brasilianische Öffentlichkeit gegenwärtig die Dringlichkeit neuer Regeln, um die oligopolistische Macht der Medien zu verringern und Bedingungen für einen wahren Meinungspluralismus zu schaffen. Erfahrungen, auch aus regionalen und nationalen Konferenzen, sind verfügbar. Einfach wird die Schaffung dieser Regulierung nicht sein, da neben dem voraussichtlichen Widerstand der betroffenen Interessengruppen, die absichtlich wirtschaftliche Regulierung mit Zensur verwechseln, mit Gegenwind vom nach wie vor mehrheitlich konservativen Kongress zu rechnen ist.
Übersetzt von Peter Naumann
Der vorliegende Text basiert auf dem ausgezeichnetem Text „PSDB e mídia imaginaram em 2014 nova estratégia eleitoral contra o PT“ von Eduardo Guimaraes im Blog da Cidadania und diversen Analysen in sozialen Medien, insbesondere Luis Nassif Online/GGN, Observatorio da Imprensa, www.tijolaço.com.br, www.conversaafida.com.br, www.Ocafezinho.com.br und die Pequisa brasileira de Midia 2014 veröffentlicht von der Secretaria da Comunicação do Governo Federal.
Carlos Roberto Winckler ist Professor an der Universidade de Caxias do Sul, Rio Grande do Sul