Novy - Brasilien in unruhigen Zeiten
Am Sonntag, den 17. April 2016 beschloss die brasilianische Abgeordnetenkammer mit deutlicher Mehrheit, den Prozess der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff einzuleiten. 367 Abgeordnete stimmten dafür, nur 137 dagegen. Es ist anzunehmen, dass der Senat diese Entscheidung Anfang Mai bestätigen wird und Dilma, wie sie in Brasilien genannt wird, als Präsidentin bis zum Abschluss des danach stattfindenden Verfahrens suspendiert wird. Der Kongress entspricht mit dieser Entscheidung einer weit verbreiteten Stimmung in der brasilianischen Gesellschaft, die die Regierung Dilma für die gegenwärtige tiefe politische und wirtschaftliche Krise verantwortlich macht. Doch dieser Etappensieg der Dilma-Gegner wird wohl kaum die tiefste Krise Brasiliens seit 30 Jahren beenden.
Neuer Wein in alten Schläuchen
Das Impeachment-Verfahren hat zu eigenwilligen Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse geführt, die wenig Anlass zur Hoffnung geben. Voraussichtlich Anfang Mai wird Vizepräsident Michel Temer die Amtsgeschäfte übernehmen, sein Stellvertreter wird Eduardo Cunha. Beide wurden 2014 auf der siegreichen Liste Dilma-Temer gewählt; beide waren mit dem Wahlprogramm Dilmas in ihren Abgeordnetenwahlkampf gezogen. In diesem Sinne verkörpern sie Kontinuität. Das gilt insbesondere für die Beibehaltung einer auf Stimmentausch basierenden Regierungspraxis. Beide gehören der PMDB an, einer Partei, die in allen Regierungen der letzten 30 Jahre vertreten war. Die PMDB setzte in den 1990er Jahren neoliberale Politik um, danach Sozialreformen und nun vermutlich erneut ein neoliberales Schockprogramm.
Ein wesentlicher Faktor für den Abstimmungserfolg war die Angst vieler Abgeordneten vor weiteren Korruptionsermittlungen. So läuft gegen 36 der 38 Abgeordneten, die das Impeachmentverfahren in der Prüfungskommission einleiteten, gerichtliche Verfahren, allen voran gegen den Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha, der unter anderem fünf Millionen Dollar Schwarzgeld auf Schweizer Konten geparkt haben soll. Dieser wird daher alles unternehmen, die Verfahren einzustellen, was aufgrund der ideologischen Nähe zu vielen Richtern und Staatsanwälten durchaus möglich ist, wiewohl dies nicht ohne Widerstand aus Teilen der Richterschaft gelingen wird. Sollte ferner der Budgetvollzug der Regierung Dilma-Temer im Absetzungsverfahren tatsächlich als verfassungswidrig angesehen werden, wird der Vize erklären müssen, dass er gerade bei diesen Amtshandlungen die Präsidentin niemals vertreten hat.
Aber auch die PT hat wenig Autorität, die Praxis von Stimmentausch und parlamentarischen Opportunismus zu geiseln und Ethik in der Allianzbildung einzufordern. Das gesamte Modell konservativer Modernisierung, das moderne Politik mittels eines archaischen politischen Systems umsetzt, ist vollkommen delegitimiert. So verständlich dies ist, so klar muss auch sein, dass die absehbare Folge Polarisierung und Radikalisierung bedeutet.
Auf der politischen Rechten ist dies offensichtlich. Erstmals gibt es mit Bolsonaro einen Führer der Rechtsextremen mit Gewicht auf der Straße, im Parlament und vermutlich auch an den Urnen. Bis März dominierten diese Gruppen die Straße: sie versammelten enttäuschte und empörte WutbürgerInnen, aber auch Rechtsextreme und SympathisantInnen einer Militärdiktatur. Aufs erste wird Bolsonaro die Regierung Temer mittragen, bei der erstbesten Gelegenheit aber radikalisieren, durchaus auch im Bündnis mit antidemokratischen Gruppen.
So wird die Opposition gegen eine allfällige Regierung Michel Temer anfangs vor allem auf der Straße stattfinden. Seit Wochen wird gegen die Regierungsübernahme durch den besonders korrupten Teil des brasilianischen politischen Systems – nun angeführt durch die PMDB - demonstriert. Viele, die kein gutes Haar an der Regierung Dilma lassen, haben in den letzten Wochen Angst bekommen. KünstlerInnen, Homosexuelle und Indigene fürchten um ihre verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, die jetzt schon vom konservativen Kongress bedroht werden. Hausangestellte, die heute erstmals garantierte Rechte haben und einen Mindestlohn erhalten, beobachten Gesetzesnovellen mit Sorge, die dies rückgängig machen wollen. Der Kongress ist dabei, das Internetgesetz, das Netzneutralität vorsieht, zugunsten der Konzerne aufzuweichen; auch soll die staatliche Ölfirma Petrobras just zu einem Zeitpunkt verkauft werden, zu dem die Aktien im Keller sind und private Ölkonzerne durch Divestmentkampagnen mit massiven Problemen konfrontiert sind. Und dann sind da all jene, die einfach Angst vor rechtsextremen Gruppen haben, die seit kurzem offen auf der Straße und im Internet eine Ku-Klux-Klan-Stimmung verbreiten und am Land vermehrt Landlose und andere AktivistInnen ermorden.
Temer wird gezwungen sein, ein neoliberales Schockprogramm umzusetzen, auch wenn dies sicherlich unpopulär sein wird. Damit hat er aber die Unterstützung der Medien und der Unternehmerschaft. Bei der Form der Umsetzung wird versucht werden, diesen Kurs als alternativlos darzustellen – vermutlich mit geringen Erfolgschancen, weshalb eine Radikalisierung wie wir sie in Griechenland erlebten, wahrscheinlich ist. Anders als in Griechenland jedoch ist die radikale Rechte in Brasilien heute stark, die Polizei in der Repression des „Feindes in Inneren“ erfahren und die Justiz gewohnt, Demonstrierende zu kriminalisieren – wenn sie nicht gegen eine nicht genehme Regierung protestieren. In diesem Szenario radikalisierter Repression liegt der politische Kern des Putschvorwurfes der letzten Woche: es ist die Befürchtung ist, dass die Verfassungsbeugung, die im Absetzungsverfahren praktiziert wird, Schule macht. Putsch ist nicht nur ein Militärputsch, sondern durchaus auch ein Vorgehen, bei dem die Mächtigen Recht und Verfassung so beugen, dass nachhaltig gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verschoben werden. Dies gelang in Honduras 2009 bei der Absetzung von Präsident Zelaya und in Paraguay 2011 bei der Absetzung von Präsident Lugo.
Gleichzeitig misstraut die Mehrheit der Bevölkerung einer Regierung Temer, ein Drittel hält das Verfahren für verfassungswidrig. Die Frage ist, ob es diesen Gruppen gelingt, neue Bündnisse zu schmieden, die von außerhalb des Kongresses Druck machen für eine wirkliche politische Reform des politischen Systems. Kommerzielle Parteienfinanzierung müsste ebenso einschränkt werden wie das Quasi-Persönlichkeitswahlrecht, das zu einem Parlament mit 28 Parteien geführt hat. Doch genau dies will die Mehrheit dieses Kongresses nicht. So ist es verständlich, dass immer mehr die Forderung nach Neuwahlen erheben – wiewohl diese ohne politische Reform kaum dem Stimmentausch und Lobbyismus Grenzen setzen werden. So unsäglich die Folgen der konservativen Modernisierung der letzten Jahrzehnte also auch waren: es war die Form repräsentativer liberaler Demokratie, in der Demokratie und sozialer Friede drei Jahrzehnte gewahrt wurden. Wie dies in Zukunft in Brasilien sichergestellt wird, ist offen. Brasilien bleibt bis auf weiteres Sorgenkind.
Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt. Er verfasste seine Habilitationsschrift zu “Brasilien: die Unordnung der Peripherie”, erschienen im Promedia Verlag (2001). Die portugiesische Übersetzung „Brasil: A Desordem da Periferia“ wurde am Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre präsentiert.