Novy - Der Kampf der brasilianischen Medien gegen die „korrupte Demokratie“
Bis 2013 galt Brasilien als jenes Land der BRICs, dem es wie keinem anderen gelang, wirtschaftlichen Aufschwung, mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie zu verbinden. Wiewohl Indien, China und Russland deutlich dynamischer wuchsen, gelang es in Brasilien unter der Regierung Lula (2003-2010) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (Präsidentin seit 2011), sich ein klein bisschen vom Erbe einer nach Rasse und Einkommen gespaltenen, patriarchalen Gesellschaft zu verabschieden. Noch 2001 hatte ich in meiner Habilitationsschrift zu „Brasilien: Die Unordnung der Peripherie“ die These vertreten, dass es in Brasilien seit 200 Jahren eine Praxis der konservativen Modernisierung gibt, in der sich die alte Sklavenhalteroligarchie in jeweils neuen Gewändern erneute und ihre Herrschaft verewigte. 2002 kam mit Luiz Inácio Lula da Silva ein ehemaliger Metallarbeiter an die Macht, was Hoffnung auf einen Bruch mit dieser unseligen Tradition versprach. Tatsächlich setzte Lula umfangreiche Sozialreformen um. Über sechs Millionen vor allem schwarze Hausangestellte erhielten erstmals soziale Rechte, eine Mindestsicherung wurde eingeführt und die Löhne der Armen stiegen – anders als in den USA, der EU, China und Indien – stärker als die der Bessergestellten. Das Brasilien, das ich 2014 besuchte, war mit dem von 2002 nicht vergleichbar: es gab kaum Straßenkinder, dafür umso mehr Autos; in hunderttausenden Familien schaffte es erstmals ein Familienmitglied an die Universität. Und es hatte erstmals eine Frau an seiner Spitze.
Unwahrscheinlich erfolgreiche Armutsbekämpfung
Die sozialpolitischen Erfolge zeigen sich auch in den Statistiken: die Arbeitslosigkeit in Brasiliens Metropolitanregionen betrug 1995 8,4%, 2003 12,3% und 2014 4,8%; 2002 hatten 28,7 Millionen Brasilianer eine formale Beschäftigung mit den damit verbundenen sozialen Rechten, 2013 waren es 48,9 Millionen. Auch der größte Skandal Brasiliens, nämlich seine ungleiche Einkommensverteilung wurde systematisch bekämpft. Betrug der Ungleichheitsindex Gini 2002 noch 0,589 und positionierte Brasilien unter den ungleichsten Ländern der Welt, so fiel dieser Index bis 2013 auf 0,495. Allein im Jahr 2014 schafften 2,75 Millionen Menschen den Aufstieg aus der Armut. Selbst das Ausmaß der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Krise gilt es zu relativieren: Am Ende der Amtszeit des neoliberalen Präsidenten Cardoso betrugen die Währungsreserven 16,3 Milliarden Dollar, 2014 waren es 374,1 Milliarden. Tatsächlich haben sich aber mit der Beginn der zweiten Amtszeit von Dilma Rousseff viele Indikatoren verschlechtert, was an Fehlentscheidungen der Regierung – insbesondere der überzogene Sparpolitik des vorletzten Finanzministers – und an der politischen Krise des Landes gleichermaßen liegt. Vor allem die Mittelschicht leidet unter den erhöhten Lebenshaltungskosten, auch bedingt durch die höheren Löhne der Hausangestellten und DienstleisterInnen.
Ein Erfolgsmodell - auch für die Konservativen
Auch darf nicht vergessen werden, dass bis vor drei Jahren Brasilien auch politisch als Erfolgsmodell galt – insbesondere auch in den konservativen Medien. Während sich nämlich andere lateinamerikanischen Staaten mit radikaler Rhetorik vom weltpolitischen Mainstream abgrenzten, gewann Lula nach drei erfolglosen Versuchen 2002 die Wahl mit dem Slogan „Frieden und Liebe“. Die strategische Überlegung war, nicht den Fehler einer zu starken Radikalisierung zu begehen, die den Reformregierungen der 1950er und 1960er Jahren zum Verhängnis wurden. 1954 beging Präsident Getulio Vargas Selbstmord, nachdem er monatelang in einer Medienkampagne denunziert wurde. Zehn Jahre später, am 1.April 1964 putschten die Militärs, nachdem monatelang die Medien zusammen mit der demonstrierenden Mittel- und Oberschicht die Machtergreifung durch die Armee gefordert hatten. Es folgten in Brasilien 20 Jahre Militärdiktatur. Das wollten Lula und die Arbeiterpartei PT vermeiden und setzten daher auf eine breite Allianz mit Zentrumsparteien, aber auch mit der Agrar- und der Baulobby, ja sogar mit den freikirchlichen Fundamentalisten. Diese breite Koalition sicherte der Regierung zehn Jahre lang Mehrheiten im Parlament – und Lula phantastische Beliebtheitswerte.
Anachronistische Verfassungstreue?
Ziel war, das Land zu modernisieren und seine Institutionen zu stärken. Deshalb änderte Lula im Unterschied zu seinem Vorgänger Fernande Henrique Cardoso nicht die Verfassung, um sich eine zusätzliche Amtszeit zu sichern. Während sich Cardoso seine Wiederwahl mit Bestechungen sicherte, die von der Justiz nicht verfolgt wurden, aber detailliert dokumentiert sind, nutzte Lula sein Prestige, um im Rahmen der Verfassung eine unbekannte Fachfrau zur Präsidentin zu machen – Dilma Rousseff. Dasselbe republikanische Prinzip galt auch im Umgang mit den öffentlichen Institutionen, die aber weder nach der Sklaverei 1888 noch nach der Militärdiktatur der 1960er und 1970er Jahren einen grundlegenden Erneuerungsprozess durchliefen. Sie sollten aus sich heraus professionalisiert, nicht aber umgefärbt werden. Deshalb überließ die Regierung den jeweiligen Körperschaften selbst die Auswahl ihrer Führungskräfte. Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft erhielten erstmals Freiheiten, Korruption auch „oben“ zu verfolgen. So sollten die rechtsstaatlichen Strukturen auch über die Amtszeit einzelner Regierungen hinaus gestärkt werden. Während nämlich Korruptionsskandale in der Vergangenheit von der Staatsanwaltschaft regelmäßig archiviert wurden, sitzen heute auch einst mächtige PT-Politiker im Gefängnis. Nach über 13 Jahren PT-Regierung verfügen Justiz und Polizei heute über vollkommene Unabhängigkeit, die ein Teil des Personals in Justiz, Polizei und Staatsanwaltschaft, aber nicht in der Armee, nun für ihren Feldzug gegen die Regierung nutzt. Das führt zu einer weltweit mehr als unüblichen Situation: In der Türkei und Russland nutzt die Regierung die Gerichte als Ausführungsorgan ihrer autoritären Politik. Und Polen und Ungarn zeigen innerhalb der EU, wie einfach es für Regierungen ist, Gewaltenteilung massiv einzuschränken. Bester republikanischer Tradition folgend ist die PT dieser Versuchung nicht erlegen.
Anderen Versuchungen jedoch schon. Einst ethisches Aushängeschild und Partnerin der sozialen Bewegungen ist die Arbeiterpartei PT eine ganz normale Partei geworden: finanziert durch Firmen, in Korruptionsfälle involviert und mit einem Riesenapparat, der wesentlich an der eigenen Wiederwahl interessiert ist und in dem zahlreiche Opportunisten an der Macht und ihren Privilegien mitnaschen. Schon lange haben sich Junge und Engagierte von der Regierung ebenso entfremdet wie NGOs und soziale Bewegungen, die vor allem den Umweltkurs und die Anbiederung an die Agrarlobby und die Banken kritisieren.
Aber vor allem wird die PT für die aktuelle wirtschaftliche und politische Krise verantwortlich gemacht. Vergessen sind die Erfolge der Vergangenheit. Brasilien steckt in einer tiefen Rezession und ist politisch gespalten wie zuletzt unter der Militärdiktatur. Die PT ist an der Regierung, die Macht hat sie aber weitgehend abgegeben. Ein erneuter Korruptionsskandal in der staatlichen Ölfirma hat den Ärger in der Bevölkerung weiter geschürt. Anders als in Österreich sitzen deshalb zahlreiche Prominente in Haft. Wie in Europa ist dadurch das Wutbürgertum salonfähig geworden – und richtet sich vor allem gegen Lula, Dilma und die PT. Hinzu kommt, dass Dilma mit ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre selbst die Linken vergrault hat. Ob sich die erste Frau an der Spitze Brasiliens als Präsidentin halten kann, hängt vom Ausgang eines komplexen Kräftemessens ab.
Mächtige GegnerInnen
Macht haben erstens die Medienkonzerne, die die PT mit üppigen Werbeetats gefüttert und am Leben erhalten hat – eine nicht auf Brasilien beschränkte Praxis. Die heutigen Medienkonzerne heizten großteils schon 1964 die Stimmung für eine Militärintervention an. Bis heute gibt es für dieses Verhalten keine ernsthaften Entschuldigungen der Konzerne. Das Militär hat jedoch aus der Diktatur gelernt und enthält sich jeder politischen Einmischung. Um demokratische Wahlergebnisse zu korrigieren, setzen die Medien daher heute auf die Justiz, die an Stelle der Militärs als Kämpferin gegen Korruption legitimiert wird. Praktisch die gesamte Medienlandschaft trommelt seit über einem Jahrzehnt tagtäglich gegen die Regierung. Lange Zeit ohne Erfolg, bis die Stimmung mit den Protesten im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft kippte.
Macht hat zweitens die Justiz, insbesondere in ihrer Verbindung mit den Medien. Seit Jahren ist es üblich, dass die Medien fast ausschließlich die Korruption der Bundesregierung anprangern, nicht aber die in oppositionellen Landesregierungen, fast ausschließlich von Verfehlungen von PT-PolitikerInnen berichten, deutlich weniger von jenen anderer Koalitionspolitiker. Das ist zwar nicht fair, aber im Rahmen der Gesetze erlaubt. Beliebt sind auch medial inszenierte Vorverurteilungen nach dem immer gleichen Schema: Richter leiten Untersuchungsergebnisse an die Medien weiter, die Aussagen von Beschuldigten, mit denen sich diese selbst rechtfertigen, als Tatsachen darstellen und gleichzeitig Gegendarstellungen unterlassen. Doch nun hat die Medialisierung der Justizverfahren ein neues Niveau erreicht. Unzählige RichterInnen und PolizistInnen suchen seit Jahren bei Lula, seiner Familie und FreundInnen nach Rechtsbrüchen – bis heute ohne Ergebnisse, die über Behauptungen hinausgehen. Vorletzten Samstag wurde der Expräsident um sechs Uhr in der Früh von Justiz und Medien geweckt, um über einen seit langem bekannten Immobilienkauf verhört zu werden – zu dem auch jahrelange Ermittlungen noch keine juristisch stichhaltigen Ergebnisse erbrachten, geschweige denn zu einer Anklage führten.
Gesetzesbrüche werden relativiert, wenn sie vermeintlich zur Wahrheitsfindung beitragen. So wurden Lulas Anwälte durch den Starrichter Moro illegal abgehört, ein bis heute konsequenzenloser Bruch eines fundamentalen Rechtsstaatsprinzips. Seit Tagen steht der doppelt schwere Verdacht im Raum, dass selbst die Präsidentin abgehört wurde, die in kein Verfahren verwickelt ist. Trotzdem wurden ihre privaten Telefongespräche umgehend veröffentlicht. Vergangenen Dienstag hat nun der Oberste Richter Teori das Vorgehen Moros verurteilt und ihm das Verfahren entzogen, wiewohl dies – wie er betont - den am Schutz der Privatsphäre Lulas begangenen Schaden nicht rückgängig machen kann. Umgehend versammelte sich Aufgebrachte vor Teoris Wohnung und auf Facebook folgten sofort Aufforderungen wie „Setzt das Haus in Brand“ und „Guillotine!“. Und in den Blogs von Journalisten der Medienkonzerne wurden prompt Warnungen ausgesprochen: Teori müsse sich des Volkszorns bewusst sein, den sein Handeln hervorrufe.
Macht hat drittens das Parlament, in dem die Regierungspartei PT kaum mehr als 10 Prozent der Sitze hat, obwohl ihre Kandidatin die Präsidentschaftswahlen mit über 50 Prozent der Stimmen gewann. Dies liegt auch daran, dass jener Richter, der Lulas Angelobung als Kabinettsminister annullierte, derselbe ist, der die Genehmigung eines neues Wahlrechts so lange verschleppte, bis es im letzten Wahlkampf nicht mehr rechtskräftig werden konnte. So war 2014 weiterhin unbeschränkte Wahlkampffinanzierung erlaubt. So sind die drei B (bala, biblia, bio – Waffen, Bibel und Agrarlobby) eine bestimmende, und besonders korrupte Kraft im Parlament. Zahlreiche Abgeordnete sind in Korruptionsverfahren involviert, die sich zumeist folgenlos über Jahre hinziehen. So steht an der Spitze des Parlaments ein Abgeordneter, dem vom Obersten Gerichtshof vorgeworfen wird, fünf Millionen Dollar Schwarzgeld auf Schweizer Konten geparkt zu haben. Dieses Parlament hat letzten Donnerstag ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff eingeleitet, das formal nichts mit den Korruptionsvorwürfen rund um die staatliche Ölfirma zu tun hat. Der Vorwurf lautet nicht, Dilma habe sich bereichert, sondern die Regierung habe „Bilanzen geschönt“, indem sie Sozial- und Konjunkturprogramme durch Budgetumschichtungen vorfinanziert habe – eine von den Vorgängerregierungen jahrzehntelang praktizierte und von den Höchstrichtern jahrzehntelang akzeptierte Budgetpolitik. Und eine Praxis, die bei Anlegung der gleichen Standards umgehend zur Amtsenthebung der allermeisten Gouverneure führen müsste.
Und Macht hat schließlich die Straße – Demos und Gegendemos versammeln dieser Tage gleichermaßen Hunderttausende. Die historische Spaltung von arm und reich, weiß und schwarz, die die Sozialpolitik der letzten Jahre nach dem Vorbild Westeuropas überwinden wollte, vertieft sich gerade erneut. Zum einen demonstrieren Wutbürger, die über „die Politik“ empört sind und die Regierung der PT mit allen Mitteln beenden wollen. Diese radikalisierte Mittel- und Oberschicht stößt auf zunehmende Zustimmung in der Bevölkerung und den sozialen Medien – ein Erfolg auch der Medienberichterstattung, die weltweit fast ausschließlich die KritikerInnen ins Bild kommen lässt. Ausgeblendet bleiben zumeist Bilder von Transparenten, in denen „Militärintervention jetzt“ oder „Geben wir ihnen ein 64“ gefordert werden, oder auch das Agieren rechtsextremer Banden, die vermeintliche RegierungsbefürworterInnen verfolgen. Aber auch die Industriellenvereinigung von São Paulo und die Anwaltskammer unterstützen die Amtsenthebung. Auf der anderen Seite demonstrieren längst nicht nur BefürworterInnen der Regierung, sondern vor allem VerteidigerInnen von Rechtsstaat und Demokratie – allen voran über 8.000 JuristInnen, die katholische Bischofskonferenz (die sich 1964 ganz anders verhielt), aber auch Indigene, die um ihre Landrechte bangen, und FeministInnen und Homosexuelle, die ein Ende der Gleichstellungspolitik durch den radikalisierten Kongress fürchten. Selbst heftige RegierungskritikerInnen, auch diejenigen, die 2013 im Vorfeld der Fußball-WM auf die Straße gingen, sehen das willkürliche und einseitige Vorgehen von Justiz und Parlament mit Sorge. 1,3 Millionen brachten die Veranstalter letzten Freitag auf die Straße. Und rund um den Jahrestag des Putsches am 1. April sind erneute Großdemonstrationen geplant.
Hoffnung auf eine Allianz der Vernunft
Dilma Rousseff ist nicht nur die erste demokratisch gewählte Frau an der Spitze Brasiliens, sie wurde auch jahrelang unter der Diktatur gefangen gehalten und gefoltert. Sie ist vermutlich nicht die beste Staatschefin, die Brasilien je hatte. Aber die Justiz hat bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte für korruptes Verhalten gefunden. Ganz im Unterschied zu ihrem unterlegenen Gegenkandidaten Aécio Neves, der offensichtlich illegale Konten in Liechtenstein hat. Trotzdem ist ihre Zukunft ungewiss. 2012 in Paraguay und 2009 in Honduras war das koordinierte Vorgehen von Justiz und Parlament erfolgreich; die demokratisch gewählten Präsidenten Lugo und Zelaya wurden des Amts enthoben, die alten Oligarchen, die die „Unordnung der Peripherie“ seit der Kolonialzeit verwalten, kehrten zurück. Die Proteste gegen den Bruch von Rechtsstaatlichkeit im Zuge des Amtsenthebungsverfahrens und gegen Menschenrechtsverletzungen wie bei der jüngsten Ermordung einer Umweltaktivistin in Honduras hielten sich in Grenzen. Doch Brasilien hat eine vielfältigere Ökonomie, die stabile Institutionen braucht. So bleibt zu hoffen, dass sich auch die Bosse der großen Unternehmen und Banken einer Allianz der Vernunft anschließen, um eine dauerhafte Destabilisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu verhindern. Zu hoch war der Preis, der vor 52 Jahren für den Kampf gegen die „korrupte Demokratie“ bezahlt wurde.
Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt. Er verfasste seine Habilitationsschrift zu “Brasilien: die Unordnung der Peripherie”, erschienen im Promedia Verlag (2001). Die portugiesische Übersetzung „Brasil: A Desordem da Periferia“ wurde am Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre präsentiert.