Novy - Grüne Utopie in Zeiten des Übergangs
Das verbindet den utopischen Horizont einer friedlichen, nachhaltigen, freien und solidarischen Gesellschaft mit den aktuellen politischen Auseinandersetzungen und konkreten kleinen Veränderungsschritten. Dies kann anhand der aktuellen Grünen Diskussion, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen das bestehende Grüne Grundsicherungsmodell ablösen soll, anschaulich herausgearbeitet werden.
In Zeiten der Krise und des Übergangs steigt die Sehnsucht nach Orientierung und positiven gesellschaftlichen Leitbildern. Intensiv wird nach Utopien und Alternativen zu negativen aktuellen Entwicklungen gesucht: wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Das gute Leben für alle verbindet den utopischen Horizont einer friedlichen, nachhaltigen, freien und solidarischen Gesellschaft mit den aktuellen politischen Auseinandersetzungen und konkreten kleinen Veränderungsschritten. Dies kann anhand der aktuellen Grünen Diskussion, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen das bestehende Grüne Grundsicherungsmodell ablösen soll, anschaulich herausgearbeitet werden.
Das aktuelle Grüne Grundsicherungsmodell, aber auch das gute Leben für alle einerseits, das bedingungslose Grundeinkommen andererseits unterscheiden sich in ihren Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft. Das jeweilige Menschen- und Gesellschaftsbild drückt sich aber nicht nur in unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen aus, sondern führt zu anderen politischen Strategien. Eine Klärung ist notwendig, damit Grüne Sozial- und Umweltpolitik wirksam konkrete kleine Verbesserungsschritte mit der Vision einer ganz anderen Gesellschaft verbinden kann.
Beginnen wir mit dem Menschenbild. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens setzt einen grünen Grundwert – den der Selbstbestimmung – absolut und basiert auf der Annahme, Menschen seien autonome Wesen, denen Geld ein gutes Leben ermögliche. Damit befördern sie die Illusion unserer Konsumgesellschaft, Bedürfnisse seien vorrangig über Geld zu befriedigen. Dies ist die von Margret Thatcher popularisierte neoliberale Erzählung von mit Geld ausgestatteten Individuen. Während Thatcher leugnet, dass Solidarität überhaupt anstrebenswert sei, hoffen die VertreterInnen des bedingungslosen Grundeinkommens darauf, Solidarität entstehe spontan, zwangsfrei, aus dem inneren Antrieb der Individuen, gleichsam durch das Wirken einer unsichtbaren Hand.
Das Grüne Menschenbild hingegen sieht das Individuum in Gesellschaft und Natur eingebettet. Menschen sind von Geburt an abhängig von anderen und Teil der Natur. Selbstbestimmung als grüner Grundwert ist nur in diesem Zusammenhang zu verstehen und basiert auf einer Vorstellung vom Menschen, als autonomes, aber mit anderen verbundenes Wesen. Die Chancen jedes Individuums, ein gelungenes Leben zu führen, hängt von der Gesellschaft ab, in der es lebt. In Sklavenhaltergesellschaften ergeben sich andere Lebenschancen als in Wohlfahrtsstaaten. Das Grüne Menschen- und Gesellschaftsbild gehen daher Hand in Hand. Wie Gesellschaften organisiert sind, ermöglicht oder behindert Entfaltungsmöglichkeiten.
Daher hat auch ein unterschiedliches Bild von Gesellschaft Auswirkungen darauf, welche politischen Strategien verfolgt werden. Das bedingungslose Grundeinkommen befördert die Illusion, komplexe Gesellschaften ließen sich ohne Zwang und Konflikt organisieren. Könnten Menschen autonom agieren, ohne andere damit zu beeinflussen, wäre eine Welt ohne Konflikte vorstellbar. Weil aber Menschen immer in Natur und Gesellschaft eingebettet tätig sind, braucht es die gemeinsame Gestaltung der Regeln, aber auch der Infrastrukturen, die unsere Art zu leben und zu arbeiten bestimmen. Und weil Menschen unterschiedliche Interessen und Wünsche haben, sind Konflikte unvermeidbar – Grüne kennen dies aus der Verkehrs-, aber auch der Migrationspolitik. In komplexen modernen Gesellschaft ist die Vielfalt an Meinungen und Lebensstilen nicht nur unvermeidbar, sondern sogar wünschenswert. Nonkonformismus ist auch Teil des Erbes der Aufklärung. Doch gleichzeitig brauchen moderne Gesellschaft Ordnung und Regeln, denn es gibt keine Freiheit ohne Zwang – wenn Hassposter nicht mit Konsequenzen rechnen müssen, wenn Autoraser nicht gestraft werden, dann sind es die Kleinen, die Armen, die Schwachen, die Sensiblen, die die Rechnung bezahlen. Daher ist es auch in einer Gesellschaft, die allen ein gutes Leben ermöglicht, notwendig, dass auf demokratischen Wege Regeln beschlossen werden, die Einzelne zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Ein gutes Leben für alle erlaubt keine bedingungslose Freiheit jedes Einzelnen, sondern nur die gesellschaftlich verhandelte Freiheit innerhalb eines Gemeinwesens. Nur so schützt sich eine Gesellschaft vor Machtkonzentration, Gewalttätigen und Rücksichtslosen. Nur so können Schutzbedürftige wirksam unterstützt werden.
Das Grüne Menschenbild geht deshalb mit einem Bild von Gesellschaft einher, das auf Reziprozität, auf Gegenseitigkeit aufbaut. Daher ist das Grüne Grundsicherungsmodell unter den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen ein gutes Modell sozialer Absicherung. Es ist mit dem Grünen Menschen- und Gesellschaftsbild vereinbar, wiewohl es die Utopie eines guten Lebens für alle noch nicht verwirklicht. Es verhindert aber das Schlimmste – Hunger und extreme Armut in reichen Gesellschaften. Und da dieser ethische Mindeststandard heute von reaktionären Kräften in Frage gestellt wird, ist selbst die bestehende bedarfsorientierte Mindestsicherung mit all ihren Schwächen zu verteidigen. Gleichzeitig haben die Entwicklungen der letzten Jahre gezeigt, dass das Grüne Grundsicherungsmodell dringend ergänzt und erweitert werden muss. Die Fokussierung auf den Schutz derjenigen, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben, erleichtert es den BefürworterInnen von Sozialstaatsabbau, ihre Vorschläge als Politik „für die Mehrheit“ zu verkaufen. Aus diesem Grund muss das Grüne Grundsicherungsmodell, das Schutz vor Hunger und Elend gewährleistet, ergänzt werden durch Maßnahmen hin zu einem guten Leben für alle. Das gute Leben für alle als konkrete Utopie unterscheidet sich vom bedingungslosen Grundeinkommen nämlich genau darin, dass menschliche Bedürfnisse durch gemeinsam geschaffene materielle und soziale Infrastrukturen befriedigt werden: durch kostenlose Kultur- und Freizeitangebote, billige oder kostenlose öffentliche Verkehrsmittel, Bildungs- und Gesundheitsleistungen. Gutes Leben wird gesichert, indem die Lebenshaltungskosten sinken, nicht indem der Konsum gesteigert wird. Das ist die Grüne Antwort auf die ökologische Kritik am Wachstumszwang.
Der Grundwert basisdemokratisch zielt auf jenes breite, die Gestaltung der gesamten Gesellschaft umfassende Demokratieverständnis, das Teilhabe auch bei der Energie-, der Verkehrs- und der Agrarwende einfordert. Seit der Gründung der Grünen stehen die Auseinandersetzungen über diese Regeln und Infrastrukturen im Zentrum: sowohl im Widerstand gegen Atomkraftwerke und Straßenbauprojekte als auch bei Maßnahmen hin zu leistbaren öffentlichen Verkehrsmitteln und Kinderbetreuungseinrichtungen für alle. Begegnungszonen als konsumfreie Freiräume für alle, die 365-Euro-Jahreskarte oder die gemeinsame Schule für Kinder bis 14 sind Beispiele, wie die Vision eines guten Lebens für alle in konkreter Politik ein stückweit umgesetzt wird.
Der Grüne Leitantrag zur Sozialpolitik mit dem Titel „Selbstbestimmt und solidarisch“ macht die Gestaltung der sozialen und ökologischen Infrastruktur zu einer zentralen politischen Aufgabe. Das Aushandeln von individuellen Ansprüchen, ökologischen Notwendigkeiten und Solidarität vor Ort und weltweit ist nur demokratisch, gemeinsam möglich. Es basiert auf Gegenseitigkeit und ist niemals bedingungslos. Mensch sind Individuen in Beziehung, autonom und verbunden. Das bedingungslose Grundeinkommen jedoch privatisiert die Sorge um das gute Leben. Doch Einzelne sind überfordert, alleine Lebens- und Produktionsweisen zu verändern. So haben die in den letzten Jahren in Österreich umgesetzten Schritte hin zu erweiterten staatlichen Geldleistungen bestehende Strukturen nur verfestigt. Das zeigt sich beim Pflege- und Kindergeld, die die geschlechtliche Arbeitsteilung zementieren. Wenn billige Migrantinnen und unbezahlte weibliche Familienmitglieder diese gesellschaftlich so notwendigen Arbeiten erledigen, während Männer und Gutverdienende sich freikaufen können, dann perpetuieren Geldleistungen Ungleichheiten in der Erwerbsarbeit. Doch auch die Pendlerpauschale zeigt, wie Geldleistungen ohne böse Absicht von Individuen alte Strukturen verfestigt. Auch hier gilt: Nur der Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel wird Mobilitätsverhalten ändern.
Das Gute Leben für alle erweist sich so als konkrete Utopie, das einer Grünen Sozialpolitik Orientierung und Kompass gibt. Sowohl das Grüne Grundsicherungsmodell als auch der Ausbau einer sozialökologischen Infrastruktur durch Stadt- und Landesregierungen sind konkrete kleine Schritte hin zu einer großen Utopie. Das ist die Stärke der Utopie eines guten Lebens für alle in der aktuellen Übergangszeit. Es ist kein Brief ans Christkind oder die Idee eines in weiter Ferne verorteten Paradieses, sondern es unterstützt die Kommunal- und Landespolitik, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen. Utopie und Realpolitik – Rosa Luxemburg nannte dies revolutionäre Realpolitik - in Zukunft systematischer und konsequenter zusammenzudenken, ist für Grüne Politik in Zeiten des Übergangs die Chance, kompetente Sachpolitik mit den Erfordernissen grundlegender systemischer Veränderungen zu verbinden.
Andreas Novy ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt