Schwentner - Selbstbestimmt und Solidarisch
Diese sind weniger bestimmt von der Notwendigkeit struktureller Veränderungen als vielmehr durch Abnützung des Neuigkeitswerts eines Wortes in der öffentlichen Debatte.
Ein in Österreich gerade vorgeführtes Lehrstück ist etwa die „Lohnsteuer runter“-Kampagne der Arbeiterkammern und des ÖGB in den Jahren 2014/15, die „Gerechtigkeit“ forderte und erstaunlicherweise mit dem Slogan „Mehr Netto vom Brutto“ daherkam. Einem Slogan, mit dem vor allem wirtschaftsliberale und konservative Gruppierungen in den letzten 25 Jahren Stimmung gemacht haben. Und mit einer Kampagne, die jetzt – nachdem die Steuerreform 2015 in Kraft getreten ist – mit dem Banner „gesenkt“ abgefeiert wird. Ob eine Steuerreform gerecht sein kann, von der Nationalratsabgeordnete mit € 2.100,- im Jahr profitieren, eine Frau mit dem Medianeinkommen aber nur etwa mit € 500, sei dahingestellt: Es ist die große Erzählung, in die sich Menschen eingliedern können.
Auch wenn die sozialen Errungenschaften der letzten 100 Jahre in Österreich und vielen anderen europäischen Metropolen groß sein mögen: Abgesichert hat uns das nicht. Während man uns noch in den 1970er einzureden versuchte, es sei der Nationalstaat, der uns soziale Sicherheit garantieren, stehen wir spätestens seit Mitte der 1990er einem Nationalstaat gegenüber, dem nichts wichtiger zu sein scheint, als genau diese soziale Sicherheit abzubauen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu reduzieren und Inklusion zu erschweren.
Und in diesem Prozess des Aushöhlens gesellschaftlicher Sicherungselemente tauchen wieder kollektivistische Argumentationsmuster auf: Warum sollen Flüchtlinge Mindestsicherung erhalten, die noch nie – wie „wir“ – Beiträge ins Sozialsystem eingezahlt haben?[1] Warum sollen „wir“ Nettozahler mit unserem sauer verdienten Geld MinderleisterInnen absichern?
Die Grenze dieses „wirs“ ist verschiebbar: Gilt die Lohnsteuergrenze von € 11.000 pro Jahr? Oder ist nicht vielmehr das Medianeinkommen der BeitragszahlerInnen in der Sozialversicherung die Grenze zwischen „Leistungsfähigen“ und „MinderleisterInnen“? In beiden Fällen lassen sich wunderbare Feindbilder aufbauen: Beide Argumentationsmuster lassen die Mehrheit aller Frauen als „MinderleisterInnen“ zurück, aber auch Menschen aus Osteuropa und selbstverständlich Flüchtlinge?
Kollektivistische Konstruktionen schaffen – siehe Steuerreform-Kampagne – bisweilen breite Inklusionsangebote, in der Regel dienen sie aber ausschließlich der Ausgrenzung: Gerade die Steuerreform zeigt deutlich, dass ein Zugewinn für Menschen mit niedrigem Einkommen über diese Gruppenkonstruktion den zentralen Gewinn für sehr gut Verdienende brachte.
Die kollektivistische Konstruktion hat vielmehr Machtverhältnisse zementiert oder gar verstärkt: Statt die Gründe für die steigende Ineffizienz sozialer Sicherungssysteme in sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen zu suchen, verteidigen noch-ProfiteurInnen nicht mehr voll wirksame Strukturen gegen die Wünsche von nicht-mehr-ProfiteurInnen.
Die Welt hat sich verändert und sie verändert sich stets aufs Neue. Unsere Gesellschaften in Westeuropa haben über Jahrzehnte in hervorragender Weise dargelegt, dass sie sich mit ihren Modellen sozialer Inklusion nicht anzupassen verstehen: Statt die Inklusionsfähigkeit von Netzen neuen Gegebenheiten (wie etwa der Ausweitung prekärer Beschäftigung) anzupassen, exkludieren wir sehenden Auges jene, die nicht in die gesellschaftlichen Muster der Fünfziger und Sechziger passen: Arbeitslosigkeit wurde in den Sechzigern in Raten unter 1% gemessen. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit lag unter 30 Tagen. Darauf ist unser System der Arbeitslosenversicherung ausgerichtet. Heute muss aber nicht mehr ein Prozent der Menschen für 30 Tage mit dem europaweit zweitniedrigsten Arbeitslosengeld auskommen, sondern über 10 Prozent für bis zu 250 Tage. Das ist eine Eintrittskarte in die soziale Ausgrenzung.
Um zum Punkt zu kommen: In einer zunehmend sozial, örtlich, familiär oder beruflich mobilen Welt leisten soziale Sicherheitssysteme, die auf die große Erzählung der Gruppenzugehörigkeit (nach Geschlecht, Beruf, Staatsbürgerschaft,…) abstellen nicht mehr das, was wir brauchen. Sie schaffen nicht jene Grundstruktur an Sicherheit, die notwendig ist, um die Risiken des Lebens zu überwinden.
Wer jedoch kann dieses Patt aus Abhängigkeit von Zugehörigkeit zu einem Kollektiv einerseits und der Unfähigkeit der Systemkonstruktion selbst, sich an die Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen, aufbrechen?
Darauf gibt es wohl keine abschließende Antwort, aber: Ganz sicher ist, dass das nur dann gelingen kann, wenn das Individuum selbst in Mittel in der Hand hat, seine Bedürfnisse zur sozialen Sicherung nötigenfalls gerichtlich durchzusetzen.
Wir Grüne stehen daher für Systeme, die Rechtsansprüche garantieren statt Almosen und Rechtsschutzverfahren, mit denen Ansprüche effektiv durchgesetzt werden können.
[1] Es hat noch nie jemand – unabhängig jeder Staatsbürgerschaft, jedes Alters oder jedes Geschlechts – Beiträge für die Mindestsicherung oder Sozialhilfe bezahlt. Es ist das Wesen der Mindestsicherung/Sozialhilfe, dass sie als „letztes Netz“ beitragsunabhängig ist.
Judith Schwentner ist Sprecherin für Soziales und Familie, SeniorInnen und Pflege der Grünen im österreichischen Parlament.