Ungleiche Welt – vom Süden im Norden
Herausragend sind die Veränderungen in den USA: Stieg der Anteil des reichsten Prozents der EinkommensbezieherInnen bis 1928 auf 19,6% („Ein Prozent erzielte fast ein Fünftel des nationalen Volkseinkommens“), so sank dieser Anteil durch Weltkrieg und Wohlfahrtskapitalismus bis 1973 auf 7,74%, um dann erneut auf 19,3% (2012) anzusteigen. Der in den letzten Jahrzehnten dominante Neoliberalismus führt somit zu einer Einkommens- und Vermögensverteilung, die derjenigen des liberalen 19. Jahrhunderts ähnelt. Dies zeigt sich auch in europäischen Ländern, allen voran dem Vereinigten Königreich. Sicherlich waren die beiden verheerenden Kriege und die Angst vor Revolutionen ein wichtiger Grund für den Rückgang der feudalen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ungleichheiten. Doch dies kann nicht die ganze Erklärung sein, denn wir beobachten ähnliches an der Peripherie der Weltwirtschaft, in Südafrika und Argentinien zum Beispiel; Länder, die von den beiden Kriegen nur am Rande betroffen waren.
So sank der Anteil des reichsten Prozents am Volkseinkommen in Argentinien von 25,96% (1943) auf 7,4% im Jahre 1973. Nicht nur in der Militärdiktatur, sondern auch während der neoliberalen Redemokratisierung stieg dieser Anteil bis 2003 erneut auf 16,85%. Ähnlich das Bild in Südafrika, wo der Anteil der Reichsten von 23,6% (1946) auf 9,85% (1991) sank, um danach erneut auf 16,68% (2011) anzusteigen. So überraschend es klingt: Während der Apartheid sank der Anteil des reichsten Prozents, während er erneut stark anstieg, obwohl die schwarze Bevölkerungsmehrheit heute ihr Wahlrecht ausüben kann.
Eine Erklärung Pikettys ist, dass die hohen Wachstumsraten der Nachkriegszeit ermöglichten, dass der Kuchen für die Mehrheit der Menschen rascher wuchs als die Kapitaleinkommen der Reichen. Dies endete; angefangen im Süden mit Pinochet 1973 und im Norden mit Thatcher 1979. Die neoliberale Konterrevolution setzte ein: Seitdem wächst der Reichtum der Reichen unvergleichlich schneller als die Wohlfahrt der restlichen 99 Prozent.
Was können wir aus diesen Zahlen lernen? Die kapitalistische Weltwirtschaft strukturiert die Entwicklungschancen weltweit, wobei Dynamiken im Globalen Norden und Süden enger verwoben sind als manche vermuten. Sowohl im Wohlfahrtskapitalismus in Europa und Nordamerika, als auch im Entwicklungsstaat des Südens reduzierte sich die Ungleichheit nach den Weltkriegen vorübergehend stark. In diesem Sinne bildet dieses Modell eine positive Referenz für alle Bemühungen, im 21. Jahrhundert eine solidarische Gesellschaft zu schaffen.
Was sagt die World Top Incomes Database über Österreich? Nichts, denn Österreich gehört zu jenen Ländern, die Kapitaleinkommen separat und damit geringer besteuern als sonstige Einkommensarten. Das begünstigt unsere Reichen doppelt: Sie zahlen weniger Steuern und das wahre Ausmaß der Ungleichheit wird bis zur Abschaffung der begünstigten Kapitalertragsbesteuerung anders als in den USA und Frankreich verschleiert bleiben. Trotzdem bleibt es der Verdienst von Thomas Piketty, gezeigt zu haben: Ungleichheit ist kein Schicksal, Ungleichheit wird gemacht.
So sind die Entwicklungen nicht einheitlich. Politik macht einen Unterschied! Aber die formale Demokratisierung mit politischen Teilhaberechten, wie sie in Post-Apartheid Südafrika erreicht wurde, schuf für sich allein keine gerechte Gesellschaft. Notwendig ist vielmehr der politische Wille der Regierenden, allen soziale Teilhabechancen zu ermöglichen. Südafrika, das auf Privatisierung und einen Fürsorgestaat setzte, konnte diese Chance vorerst nicht nutzen. Anders in Lateinamerika. Dies war der Kontinent, auf dem sich die Ungleichheit in diesem Jahrtausend verringerte. Mit erhöhten Mindestlöhnen und einer Vielzahl begleitender Sozialprogrammen sank in vielen Staaten der Analphabetismus ebenso wie die Massenarmut. Gleichzeitig werden die Gewinne der Bergbaukonzerne zumindest teilweise für Sozialausgaben verwendet. Von diesen Erfolgen, allen voran in Brasilien, gäbe es für den Rest der Welt einiges zu lernen.
Andreas Novy ist ao. Universitätsprofessor an der WU und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt