Springe zur "Navigation" Springe zum "Inhalt" Springe zum "Footer" Springe zur "Startseite"

Europa braucht Solidarität - von Andreas Novy

Als 1973 die Diskussionen über einen europäischen Binnenmarkt begannen, formulierte der damalige Bericht, der zur Gründung des europäischen Regionalfonds führte, dass „keine Gemeinschaft von Dauer sein kann, in der ihre Mitglieder Zweifel am gemeinsamen Willen haben, einander zu helfen, die Lebensbedingungen aller Menschen dieser Gemeinschaft zu verbessern.“

Heute ist die Glaubwürdigkeit der EU in ihren Grundfesten erschüttert. Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion wurden energisch vorangetrieben, doch fehlt selbst in der gegenwärtigen Situation der Wille, wirksame Maßnahmen zu setzen, allen Menschen in der EU sinnvolle Arbeit, soziale Sicherung und Chancengleichheit zu ermöglichen. Das vertieft soziale und nationale Spaltungen. Nicht nur der Euro, die europäische Integration ist gefährdet. Warum ist es so weit gekommen? Und was ist zu tun?

Fest steht, dass sich Europa im Unterschied zur USA, Asien und Lateinamerika vom Einbruch nach 2008 noch immer nicht erholt hat. In den baltischen Staaten, ehemals Vorzeigemodelle eines neoliberalen „Neuen Europas“, sind die Folgen dramatisch, das Pro-Kopf-Einkommen sinkt um 20 Prozent. In Ungarn hat die neoliberale Sparpolitik der Sozialdemokraten die steigende soziale Ungleichheit und den Aufstieg des Rechtsextremismus befördert.

Und jetzt wackelt mit Griechenland erstmals die gemeinsame Währung. Die deutsche Regierung, unterstützt von Österreich, pocht darauf, das Problem als ein nationales darzustellen. Tatsächlich haben Fälschungen und Misswirtschaft eine Mitverantwortung am gegenwärtigen Desaster. Doch zeigt das Überspringen der Spekulation auf Portugal, Spanien und Italien, dass diese Erklärung zu kurz greift.

Nach der Krise hält Europa als einzige Weltregion beharrlich an genau jenem wirtschaftspolitischen Kurs fest, der in die Krise geführt hat. Der Finanzmarkt, eben noch in der Intensivstation und dort als höchst irrationales Wesen identifiziert, empfiehlt erneut bittere Medizin: Lohnkürzungen und Sozialabbau seien die zu erbringenden Opfer, die zu gesunden Finanzen und einer besseren Zukunft führen. Gegen alle empirische Evidenz wird am wirtschaftsliberalen Dogma festgehalten, das private Rating-Agenturen und Vermögensbesitzende zu Richtern über das Wohl und Wehe von Nationen und auch der europäischen Währung macht.

Doch so groß die Opfer für Griechenland auch sind, sie werden kaum zur Besserung der Situation beitragen. Die einzige nachhaltige Strategie, Staatsschulden zu senken, ist nämlich Wirtschaftswachstum. Nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Rhetorik des Gürtel-enger-Schnallens, der Rezession und zahlreicher Sparpakete in ganz Europa steigt die Staatsverschuldung fast überall kontinuierlich. Europas Stabilitäts- und Wachstumspakt ist gemessen an seinen eigenen Kriterien gescheitert und gehört radikal reformiert.

Lernen könnte Europa aus seinen Erfolgen in den Nachkriegsjahrzehnten, und von Ländern wie Brasilien. Brasilien betrieb in den 1990er Jahren eine neoliberale Budgetpolitik, hat gespart, privatisiert und Rezessionen durchlebt - mit dem Ergebnis, dass sich die Staatsschuld verdoppelte. Unter Präsident Lula begann 2003 der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats, die Schaffung von über 10 Millionen Arbeitsplätzen mit steigenden Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen, was zu einer Verringerung der Staatsschuld um rund ein Drittel geführt hat – ohne die Armen zur Kassa zu bitten: Solidarität ist vernünftig.

Neben der Wiederentdeckung erfolgreicher Konzepte wie Wohlfahrtsstaat und Kaufkraftstärkung wären weiters sinnvoll: eine verstärkte wirtschaftspolitische Zusammenarbeit, eine europäische antizyklische Konjunkturpolitik, die Begebung von Euroanleihen und eine effiziente Finanzmarktregulierung, die Risken begrenzt und die Macht der Finanzmarktakteure einschränkt. Denn Europas Handelsbilanz-Ungleichgewichte sind ein Problem, für das nicht nur die Schuldner verantwortlich sind und das nicht nur die Schuldner trifft. So brechen jetzt dem Exportweltmeister Deutschland sowohl die Käufer im restlichen Europa weg als auch der Wert der angeschafften südeuropäischen Staatspapiere. Nur der außereuropäische Markt und insbesondere China könnte diesen Nachfrageausfall ersetzen. Europas Aufschwung hängt somit zunehmend vom Erfolg der Schwellenländer ab.

Statt diese Außenabhängigkeit zu vertiefen, ist eine nachhaltige Erholung des europäischen Binnenmarktes anzustreben. Das setzt allerdings voraus, dass die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen reduziert wird. Der Anteil der Löhne am Sozialprodukt sinkt in Europa kontinuierlich, die Einkommensverteilung wird zunehmend ungerechter. Die resultierende Konzentration von Vermögen und Einkommen führt zwar zu Immobilien- und Finanzblasen, wie wir erlebt haben, nicht aber zu Kaufkraft und zur Bereitstellung von (ökologischer) Energie- und Verkehrsinfrastruktur und öffentlichen Diensten wie Pflege, Gesundheit und Bildung. Es wird daher notwendig sein, den großen privaten Reichtum, den neoliberale Politik anzuhäufen erlaubte, zur Finanzierung der öffentlichen Budgets heranzuziehen. Defizite der einen gehen nämlich immer mit Überschüssen anderer einher. So fließt der staatliche Schuldendienst heute direkt in die Taschen privater Vermögensbesitzender. Vermögensbezogene Steuern inklusive einer Finanztransaktionssteuer und ganz allgemein eine progressive Umgestaltung der Steuerstruktur sind die einzigen nicht die Kaufkraft senkenden Einnahmen – und so die einzig sinnvollen, soll die Wirtschaftskrise nachhaltig überwunden und der soziale Zusammenhalt in Europa aufrecht erhalten werden.

 

Andreas Novy ist ao. Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien und Mitglied des Bundesvorstands der GBW