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Gutes Leben für alle – Plädoyer für eine Mittelschichtsgesellschaft - von Andreas Novy

Die gegenwärtige große Krise kann der Anstoß für ein ökologisches und solidarisches Zivilisationsmodell sein, in dem ein gutes Leben für alle möglich ist. Dies erfordert einen Bruch mit den gegenwärtigen Formen zu arbeiten und zu leben und die Suche nach Alternativen, die sich am Gemeinwohl und an Nachhaltigkeit orientieren.

Diese solidarischen und ökologischen Alternativen zum gegenwärtigen Konsum- und Konkurrenzmodell kapitalistischer Marktgesellschaften müssen nicht das Rad neu erfinden, sondern können auf Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts aufbauen. Die große Leistung der Sozialdemokratie in Ländern wie Österreich war im 20. Jahrhundert, den überwiegenden Teil der Bevölkerung am Wohlstand kapitalistischer Marktgesellschaften teilhaben zu lassen, kurz zusammengefasst, ein Auto für alle: Aus ArbeiterInnen wurden KonsumentInnen und BürgerInnen. Gleichzeitig wurde die kapitalistische Grundlogik von Akkumulation, Konsumfixiertheit und Profitlogik nicht in Frage gestellt. Der Wohlfahrtsstaat war eine nationalstaatlich organisierte Solidargemeinschaft, von der Unter- und Mittelschicht gleichermaßen profitierten. Er ermöglichte den freien Zugang zu Bildung und Gesundheit, erschwingliche Wohnungen und sichere Altersvorsorge. Die Ära Kreisky, die 1970er Jahre, war der letzte große Versuch, durch mehr soziale Gerechtigkeit die soziale Mobilität zu erhöhen und Aufstiegschancen zu eröffnen.

Seit den 1980er Jahren befindet sich dieses Modell weltweit in der Krise. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und des Endes des realen Sozialismus prägt das liberale Gedankengut den Zeitgeist. Neoliberale fanden Mehrheiten für den alten Glauben an die Vorzüge freier Märkte, für das Recht des Stärkeren und die Liberalisierung und Privatisierung von Energie, Banken, Bahn und Wohnungen. Nach drei Jahrzehnten zeigt die Bilanz: Die soziale Spaltung hat sich vertieft, die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen hat zugenommen, die Entscheidungsmacht konzentriert sich in Händen weniger Konzerne und Finanzinstitutionen und gleichzeitig steigt die systemische Instabilität der Weltwirtschaft und die Staatsschulden. Der Neoliberalismus ist selbst gemessen an den eigenen Erfolgskriterien gescheitert. Mit der Finanzkrise 2008 war zu vermuten und zu hoffen, dass dieses Modell jegliche Legitimation verloren hat. Doch im gegenwärtigen Umgang mit der Krise des Euro ist die Finanzmarkt- und Privatisierungslogik in Europa weiter bestimmend.

Die linken Antworten auf den Neoliberalismus nach 1989 wurden in erster Linie im Sozialliberalismus gesucht. Sozialliberale setzten den neoliberalen wirtschaftlichen Maßnahmen nichts entgegen, sie betonten aber die Notwendigkeit der sozialen Abfederung eines Wirtschaftsmodells, das auf Wettbewerbsfähigkeit, Privatisierung und Liberalisierung beruht. Zwar sei die bestehende kapitalistische Marktgesellschaft ohne Alternativen, wohl aber sei es eine ethische Verpflichtung, schwächere und benachteiligte Bevölkerungsgruppen ins bestehende System zu integrieren. Im Weltmaßstab war dies die Politik der Armutsbekämpfung, wie sie ihren Ausdruck in den Millenium Development Goals (MDGs) fanden, welche mit Welthandels- und Finanzmarktliberalisierungen einhergingen. Sozialpolitisch war es die von der Weltbank propagierte Politik der Treffsicherheit, die Sozialausgaben auf die wirklich Bedürftigen konzentrierte. Entsprechende nationale Maßnahmen sind eine Politik der Mindestsicherung und die Bekämpfung von Armut auch im eigenen Land.

Bis heute ist der Sozialliberalismus Orientierung für viele sozialdemokratische und grüne Parteien. Doch damit hat Sozialpolitik der Mehrheit der Bevölkerung immer weniger anzubieten, wie politisch mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten umzugehen ist. Mindestsicherung ist löblich aber ungenügend, wenn es Mittelschichtsfamilien darum geht, den Kindern das Studium zu finanzieren und den Wohnbaukredit trotz Arbeitslosigkeit eines Elternteils zurückzuzahlen. Sozialpolitik, die sich um diejenigen am Rande kümmert, als wären sie Ausnahmefälle, verkümmert zu Fürsorgepolitik für einige. Gerade in der Banken- und Eurokrise werden die Grenzen des Sozialliberalismus offensichtlich. Soziale Probleme sind mit der neoliberalen Globalisierung längst von den Rändern ins Zentrum gerückt: Nicht nur „SandlerInnen“ und Arbeitslose sind Opfer der Krise, sondern die Angst vor sozialem Abstieg erfasst immer breitere Teile der Mittelschicht. Gerade weil sich die Zukunftsaussichten gleichermaßen für Unter- und Mittelschicht verdüstern, braucht es eine Politik, die klar macht, dass beide im selben Boot sitzen – beide leben von ihrer Arbeit und können nicht ihr Geld für sich arbeiten lassen, wie Teile jener 10 Prozent der ÖsterreicherInnen, die fast 70 Prozent der Vermögen besitzen.

Dieser Reichtum muss gerechter verteilt werden. Die Mittelschicht, die sowohl unter der Verschlechterung der Dienstleistungen des Wohlfahrtsstaats als auch unter der zunehmenden Brutalität des Arbeitsmarktes leidet, braucht eine solidarische Alternative zur Flucht in private und individuelle Lösungen – Privatschulen, private Kranken- und Pensionskassen. In einem System, das auf durch Geld abgesicherte Privilegien aufbaut, ist kein gutes Leben für alle möglich. Wenn Finanzmärkte Regierungen beurteilen, gibt es kein gutes Leben für die Bevölkerung. Wenn Einkommen und Vermögen sich in immer weniger Händen befinden, ist nicht genug für alle da. Das gute Leben für alle wird nur Wirklichkeit, wenn sich Machtverhältnisse ändern. Deshalb müssen diejenigen, die von ihrer Arbeit leben, wieder das Sagen haben und nicht länger diejenigen, die ihr Geld auf Finanzmärkten arbeiten lassen. Letztere, die Gewinner der neoliberalen Globalisierung, sind die, die nun einen überdurchschnittlichen Beitrag zur Finanzierung eines Gemeinwesens leisten müssen, in dem für alle Platz ist. Eine Politik, die das gute Leben für alle anstrebt, ist eine Politik, die die Interessen, Lebensprojekte und Verunsicherungen der Mehrheit Ernst nimmt.

Ein gutes Leben für alle baut auf einem Wohlfahrtsstaat auf, der allen Schutz und qualitätsvolle und ökologisch nachhaltige Angebote bietet: Die gleichen, gut ausgestatteten Spitäler für die Armen und für die Bessergestellten, und keine staatlich subventionierten Privatkassen. Geförderte Wohnungen mit höchsten ökologischen Standards für alle, und nicht bloß Mietzuschüsse für die Allerärmsten. Moderne Schulen für alle und keine Spaltung in gute öffentliche und private Schulen einerseits und öffentliche Restschulen andererseits. Alle, aber gerade die Mittelschicht, braucht öffentliche Universitäten, deren Besuch weder von den Studierenden noch deren Eltern große materielle Opfer erfordert. Das gute Leben für alle ist eine neue Leitidee zur Beurteilung politischer Entscheidungen. Öffentliche Mittel sind in erster Linie für diejenigen Maßnahmen bereitzustellen, die nachhaltig sind und einen Lebensstil fördern, der verallgemeinerbar ist – vor Ort und weltweit. Dies hat der Staat zu finanzieren, an anderen Ecken soll gespart werden. (Mai 2010)

 

Andreas Novy ist ao. Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien