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Wachstumskritik ist Kapitalismuskritik - Andreas Novy, These 1 zum Wachstum

Zivilisationen sind Kulturgesellschaften, in denen mehr an Wert produziert wird, als die Gesellschaft für das bloße Überleben braucht. Im alten Ägypten erbauten BäuerInnen und SklavInnen Pyramiden für die Pharaonen und Tempel für die Priester. Viele Kirchen in unseren Breiten entstanden durch Mehrarbeit von BäuerInnen, die diese jenseits der Feldarbeit leisteten. Die weisen Philosophen der Antike, von Aristoteles bis Platon, genossen das Denken und Politisieren, während Frauen, Fremde und SklavInnen genug schufteten, um den Alltag zu ermöglichen.

Zivilisation gibt es also erst, seit die Menschen nicht tagtäglich und einzig von der Hand in den Mund leben. Und gleichzeitig basieren diese Gesellschaften immer auf Ausbeutung und Ungleichheit – sie sind Klassengesellschaften, in denen ein gutes Leben lange nur einigen wenigen möglich war. Die Untergebenen wurden ausgepresst, damit es den Herren gut geht. Doch im Grunde waren alle vorkapitalistischen Gesellschaften statisch. Der Sohn des Schmieds wurde Schmied und die Bauerstochter Bäuerin. Wohl gab es Wachstum, aber dies war bescheiden und sehr langsam.

Kapitalismus ist eine besondere Zivilisation, nämlich die produktivste Variante dieser Klassengesellschaften. Akkumulieren, d.h. wirtschaftliches Wachstum, stellt nicht bloß die Mittel bereit für ein gutes Leben der Eliten, sondern es ist Triebkraft der gesamten Zivilisation. Im Kapitalismus ist Wachstum keine Option, die gewählt werden kann, sondern ein Zwang: Entweder eine Firma erweitert ihre Marktanteile, strebt nach Innovation und behauptet sich gegenüber den Konkurrenten - oder sie geht unter. Wer in diesem Hamsterrad nicht mitspielt, ist draußen.

Historisch gesehen ist das materielle Wachstum der letzten 200 Jahre kapitalistischer Entwicklung mit nichts vergleichbar, was in den Jahrtausenden davor in menschlichen Zivilisationen stattfand. Die von Karl Marx beschriebene „ungeheure Warensammlung“  zeichnet kapitalistische Gesellschaften genau so aus wie das ständige Streben nach Mehr, nach Wachstum. Mehr haben zu wollen ist keine Charaktereigenschaft gieriger ManagerInnen, sondern Antriebskraft des Systems. Von allem Anfang an war Kapitalismus nur möglich, weil Unternehmer und Vermögensbesitzende Wetten auf die Zukunft eingingen, Geld vorschossen, in der Hoffnung, mehr zurückzubekommen. Das Kolonialschiff, das Gewürze nach Lissabon zurückbringen sollte, musste vorfinanziert werden; so wie später die Kosten der Fabrik durch den Verkauf von Massenprodukten mehr als ausgeglichen wurden, und heute Pharmakonzerne Milliarden für Forschung an Kosmetik und Medikamenten ausgeben in der Hoffnung, später mehr an Gewinn hereinzubekommen.

Die Ausbeutung von Natur, Menschen und anderen Ländern ermöglicht es, mehr und manchmal auch bessere Produkte herzustellen. Diese Logik hat technischen Fortschritt angeheizt und die Warenproduktion vervielfacht. Sie ermöglicht viel, viel mehr Menschen als jemals, diesen Planeten zu bewohnen, hat die Kindersterblichkeit gesenkt und die Lebenserwartung weltweit deutlich erhöht. Durch Wachstum wurden im 20. Jahrhundert bei uns und werden im 21. Jahrhundert in vielen aufstrebenden Ländern – allen voran China - aus ArbeiterInnen BürgerInnen. Und wurden in früheren Zeiten durch Mehrarbeit Kirchen gebaut, so ermöglicht Produktivitätswachstum heute die Finanzierung von LehrerInnen und ÄrztInnen, von SozialarbeiterInnen und ForscherInnen. Das rastlose Streben nach Wachstum erzwingt förmlich technischen Fortschritt, sei dies in Form von Maschinen, Computern, Naturwissenschaften und moderner Medizin. Und nicht zuletzt ermöglicht Wirtschaftswachstum Einkommenssteigerungen für alle und Aufstiegschancen für die Jungen. All dies sind Errungenschaften, die es durchaus leichter machen, ein gutes Leben zu führen. Vieles davon wollen wir wohl auch nicht missen, selbst wenn die Auswüchse des Wachstums kulturell und ökologisch offensichtlich sind.

All dies ist Teil der Zivilisation, in der wir leben. Unübersehbar sind aber auch die Schattenseiten des Kapitalismus, allen voran die Kluft zwischen arm und reich und die Tatsache einer Milliarde hungernder Menschen in einer vor Reichtum strotzenden Welt. Hinzu kommen die ökologische Krise und die gleichzeitig herrschende irrationale Ignoranz gegenüber den ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstums. Würde nur ein Teil der Menschen der aufstrebenden Staaten des Globalen Südens genau so viele Ressourcen verbrauchen wie wir, gäbe es schon bald explodierende Preise und brutale Verteilungskämpfe.

Weiter so wie bisher ist also keine Option. Mit der Wachstumslogik zu brechen, bedeutet allerdings gleichzeitig den Bruch mit dem Kapitalismus, denn eine Wirtschaft, die nicht wächst, ist keine kapitalistische. Der Weg, den es dann zu beschreiten gälte, ist allerdings kein Trampelpfad, sondern ein Pfad durch Neuland. Es überrascht nicht, dass viele Menschen zögern, sich auf eine ungewisse Zukunft einzulassen. Und es verwundert nicht, dass alle Parteien weiterhin auf Wachstum setzen statt auf einen riskanten Aufbruch ins Ungewisse: Die Liberalen, weil sie an die Selbststeuerung marktwirtschaftlichen Wachstums glauben; die SozialdemokratInnen, weil Wachstum den Sozialstaat absichert, die Konservativen schlicht, weil sie den Status Quo bewahren wollen und die Grünen, weil Grünes Wachstum Nachhaltigkeit ermöglicht. Doch stimmt das? Können wir uns den mit Ungewissheiten verbundenen Systemwechsel, den Abschied vom Kapitalismus ersparen, indem wir nicht rücksichtslos und ineffizient, sondern nachhaltig wachsen?

Andreas Novy ist ao. Universitätsprofessor an der WU-Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt