Auch auf der Unfallambulanz fällt die Antwort leicht: Mit einer Verletzung aufgenommen werden, nicht all zu lange warten müssen und gut behandelt werden, auch ohne die Kreditkarte zücken zu müssen – das ist nicht überall auf der Welt üblich. Gut leben heißt, sicher sein, dass auch bei Unvorhergesehenem und Schicksalsschlägen mein Platz in dieser Gesellschaft gewahrt bleibt: Dazugehören, auch ohne Job, gepflegt werden, auch ohne private Krankenversicherung.
Ein gutes Leben ist nichts Besonderes: Es reicht bei Krankheit versorgt zu werden, eine Arbeit zu verrichten, die mir Spaß macht und die sinnvoll ist; lernen zu können, was ich im Beruf brauche und mir fürs Leben wichtig ist; dort zu wohnen, wo ich will; die Meinungen vertreten zu können, die mir wichtig sind – und dass ich genug Geld habe, um nicht ständig mit der Sorge eines überzogenen Kontos leben zu müssen. Doch reicht es, wenn es mir hier und heute gut geht? Kann ich wirklich entspannen, wenn mein Job wackelt? Macht Auslagenschauen glücklich, wenn mein Lohn gerade für das Allernotwendigste reicht oder mich der Anblick der Bettlerin daran erinnert, dass wir auf einer Insel der Seligen leben?
Das gute Leben für mich und das gute Leben für alle sind verwoben. Noch geht es vielen in Europa verhältnismäßig sehr gut. Aber die Wirtschafts- und Budgetkrise wird uns alle treffen. Wir alle erleben es, nicht täglich, aber immer öfter: Es wird nicht so bleiben wie es ist! Ist nicht eben erst meine Freundin bei Siemens gekündigt worden, wo wir vor 15 Jahren noch meinten, ein Job bei Siemens sei auf Lebenszeit? Die Nachricht von ihrer Entlassung hat mich betroffen gemacht, weil ich weiß, was dies für ihr Leben bedeutet, was es heißt, wenn ein Lebensprojekt, das auf einem sicheren Job aufgebaut war, zusammenbricht. Und sie ist weder die Einzige noch die Letzte. Wer sind die nächsten? Meine Freunde in der Entwicklungszusammenarbeit? Meine Kinder? Die eben bei Siemens Entlassene hält mir den Spiegel vor, dass es keine Garantie fürs gute Leben gibt.
Ich bin auf andere angewiesen – und zwar immer und auf vielfältige Weise. Menschen werden von anderen Menschen auf die Welt gebracht. Sie lernen durch andere reden und kommunizieren. Wir brauchen Ärztinnen, die uns heilen, Therapeuten, die uns pflegen, Lehrerinnen, die uns bilden. Menschen sind soziale Wesen, nicht weil sie gut sind, sondern weil sie ohne andere nicht existieren können. Aber wissend darum, wie gefährdet unser eigenes gutes Leben ist, braucht es die Sorge füreinander. Wir brauchen einander, um glücklich zu sein, und ein gutes Leben braucht politisch durchgesetzte Rahmenbedingungen.
Wer sich schon einmal politisch engagiert hat, weiß, dass auch gemeinsames Handeln an sich schon Teil des guten Lebens ist: Weil wir einer guten Idee zum Durchbruch verhelfen, Gleichgesinnte kennenlernen und uns weiterhin in den Spiegel schauen können. Dies erfordert Klugheit, um Strukturen zu verstehen, die ein gutes Leben für alle fördern oder behindern. Es braucht aber auch den Mut, dieses gute Leben selbst dann anzustreben, wenn mächtige Interessengruppen dies nicht wollen. Optimismus scheint dabei fehl am Platz, trüben sich doch die Zukunftsaussichten rasant ein – und auch in Europa wird es schwerer, gut zu leben. Die Zeiten werden härter, sagen selbst diejenigen, die den Karren in die falsche Richtung geschoben haben. Selbst hartgesottene Neoliberale, die seit 1986 ein Sparpaket nach dem anderen schnüren, meinen, dass es so nicht weitergehen kann. Die Brandstifter bedauern den Brand. Doch sollen wir denjenigen, die ökologisch unverantwortlich, ökonomisch unvernünftig und sozial ungerecht die neoliberale Globalisierung vorangetrieben haben, weiter vertrauen? Sollen wir zulassen, dass neue Einschnitte in die Lebensqualität der Allermeisten vorgenommen werden, damit der Finanzsektor weiter Ressourcen absaugen und Vermögensbesitzende ihr Geld arbeiten lassen – während Erwerbstätige unsicherer und mit sinkenden Einkommen leben müssen?
Die Alternative liegt auf der Hand: Es braucht eine am guten Leben für alle orientierte Politik. Dazu braucht es die Kreativität und Fähigkeiten aller, um in Zeiten knapper Mittel Innovationen hin zu mehr Solidarität und Kooperation durchzusetzen. Diese Werte, die lange schmerzlich vernachlässigt wurden, können als Orientierung dienen, wenn konkrete Maßnahmen getroffen werden: Was sind gute öffentliche Bäder wert? Wie kann der Vormarsch der Zwei-Klassen-Medizin gestoppt werden? Wie kann der Umgang mit den Schwächsten zum Maßstab guten Regierens werden?
Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Und gar zu verlockend ist es, den Sommer wieder im Bad zu verbringen, zu hoffen, nicht so bald wieder im Spital zu landen, und hart zu arbeiten, um den Job zu halten. Doch diese privatisierende Lebenshaltung ist in Zeiten der Krise kein Garant für ein gutes Leben – schon gar nicht dann, wenn die herrschenden Eliten vermehrt darüber räsonieren, das Boot sei zu voll und die Hängematte zu robust. Eliteuniversitäten, Privatkrankenhäuser und Steuerschlupflöcher für Vermögende mögen das Leben einiger weniger verbessern – dem guten Leben aller stehen diese Maßnahmen allesamt entgegen.
Gegen diese Weltsicht braucht es in den kommenden schwierigen Jahren das Leitbild vom guten Leben für alle zur Umgestaltung des derzeitigen, die Umwelt zerstörenden und immer stärker ausgrenzenden Gesellschaftsmodells. Die Krise könnte eine Chance sein, den Luxus weniger und den ökologisch bedenklichen Massenkonsum nicht weiter öffentlich zu subventionieren und die Weichen in Richtung eines guten Lebens für alle zu stellen. So könnte die Lösung der Budgetkrise nach dem Verursacherprinzip erfolgen: Die Minderheit, die seit 20 Jahren Einkommen und Vermögen konzentriert hat, soll ihren Solidarbeitrag für ein gutes Leben aller leisten: durch Bankenabgabe und Vermögenssteuern. Für die Lösung der Klimakrise gilt ähnliches: Konsummuster, die nicht nachhaltig sind, wie Autofahren, Heizen mit fossilen Energieträgern und agroindustriell hergestellte Nahrungsmittel werden nicht weiter subventioniert. Stattdessen werden öffentliche Mittel streng nach Kriterien eines nachhaltigen Lebensstils und nachhaltigen Wirtschaftens eingesetzt: Öffentliche Verkehrsmittel könnten für Menschen niedriger Einkommen besonders gefördert und der Umstieg auf nachhaltige Energieträger bei Niedrigeinkommensbezieherinnen fast kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Das wären Zukunftsinvestitionen – und gleichzeitig soziale gerechte Maßnahmen, um allen ein gutes Leben zu ermöglichen.